Genderfrust-
betrachtung
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Sibylle Berg's Und dann kam Mirna am Maxim Gorki Theater, Berlin | (C) Esra Rotthoff
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Bewertung:
„We don't give a shit“ heißt es im Theaterstück Es sagt mir nichts, das sogenannte draußen, das Sibylle Berg vor zwei Jahren für das neue Gorki geschriebenen hat. Da tanzten vier junge Frauen im Schlabberlook und mit viel Wut im Bauch dem Existential-Blues auf der Nase herum. Die Gewissheit, nur ein kleines, durchschnittliches Leben vor sich zu haben, schwebte aber als vage Ahnung über den bitter ironischen Phrasen vom „Rumgeleide“ aus Liebeskummer, Partystress und Identifikationsdruck. Nun hat das Ganze seine erwartete Fortsetzung gefunden, und die leise Vermutung, dass das wohl nie aufhören würde, weicht der Gewissheit, dass es auch noch viel schlimmer kommen kann.
Die jungen Frauen von damals sind nun Anfang, Mitte Dreißig, haben angefangen sich innerhalb ihrer Möglichkeiten zu verwirklichen, den einen oder anderen unbedeutenden Sexualpartner ausprobiert und wieder abgelegt. Und dann kam Mirna heißt es im neuen Streich von Sibylle Berg, den wiederum Regisseur Sebastian Nübling und Choreografin Tabea Martin als körperbetonten Theaterabend für „zwei gespaltene Persönlichkeiten“ eingerichtet haben. Zu Suna Gürler, Rahel Jankowski und Cynthia Micas gesellt sich neu die aus München zum Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters gestoßene Çiğdem Teke. Auch haben die vier Schauspielrinnen wieder ihre Schlabberpullis an und die Nerdbrille auf. Darunter befindet sich jetzt aber bei allen ein weites, geblümtes Umstandskleid.
Zum Umstand immer noch den Sinn des Lebens und seine Bedeutung zu suchen, gesellt sich nun das Problem, obwohl man doch die eigenen Mutter hasst, nun selbst eine Mutter zu sein. Ein Mitglied der sogenannten „Kaste der Unberührbaren“. Die Schwangerschaft als Entsorgungsmaßnahme für Frauen. Denn wer will schon die Meinung einer Frau hören, die stillt. Der Nachwuchs Mirna steht als ebenso vervierfachter, halbwüchsiger und zudem wesensfremder Mensch im pinkfarbenen Sportdress (die Mädchen sind wirklich toll) an der Rampe und entsorgt schon mal ordnungsliebend überflüssige Erinnerungen. Denn es geht ans Umziehen aus der durchgentrifizierten Betonwüste der Stadt, die man sich nicht mehr leisten kann, in die langweilige, engstirnige Uckermark voller Fremdenhass und Selbstmorden homosexueller Jugendlicher, wie Tochter Mirna mault. Im Himmel aus Liebe verblödet und den ungewollten Erzeuger (hier heißt er Thorben) gerade losgeworden, bleibt also nur noch die Auswanderung in die ehemaligen Ostgebiete.
Mit drei Freundinnen will sich unsere Protagonistin in einer als Zukunftsprojekt bezeichneten Frauenkommune, einem „süßen, kleinen Holzhaus auf dem Land“, zurückziehen. Dieser Grundplot bietet natürlich wieder jede Menge Stoff für die ironische Geißelung von eingeübten Rollenzuschreibungen, heteronormativen Geschlechtsvorgaben und das genüssliche Auswalzen sonstiger Genderklischees. „Aus diesem Zusammenhang wirst du nie entfliehen können“, weissagt die altkluge Tochter Mirna. Dazu entspinnt sich auf der Bühne eine Art panisches Gehopse und verkrampfte Umarmungsversuche, was den Zweifel der Mutter verdeutlichen soll, die ihre Schwierigkeit damit hat, in diese schlimme Welt auch noch Nachwuchs zu setzen, der dann alles erreichen soll, was man selbst nicht geschafft hat. Feminismusdebatte, Quote, Sozial Freezing und andere aktuelle Gesellschaftsthemen lösen sich im Laufe des als relativ zuschreibungsfreie Textfläche funktionierenden Stückes ab.
Man tanzt zum Beat der Schlagworte oder setzt auch mal zum Mütterrap „Annie, are you ok, are you ok, Annie“ aus Michael Jacksons Smooth Criminal an. Und auch das liebe, gute Internet mit seinem Kommentarwahnsinn und den sozialen Netzwerken wie Facebook bekommt sein Fett weg. Weitere Kommunikation läuft neben dem sporadischen Mutter-Tochter-Dialog meist nur per E-Post, was sich immer wieder als vierstimmiges Handyvibrationsgeräusch bemerkbar macht. Die Freundinnen, selbst im Selbstverwirklichungsstress und festen Glauben an den wiederholten Neuanfang, springen dabei eine nach der anderen ab. „Lass uns umziehen, Quatsch nicht!“ ist letztendlich die Devise der Tochter, die ihrer Mutter ohne Plan vorhält, ihr doch endlich ein Vorbild zu sein. Die konservative Nachwuchsgeneration besteht auf Normalität. Für Mirna ist beim Erwachsenwerden ein Familienumfeld mit zwei Elternteilen wichtig, während die Mutter mal wieder nur an sich denkt.
Ein wiedermal recht sarkastischer Kommentar von S.P.O.N.-Kolumnistin Frau Sibylle zur aktuellen Feminismusdebatte, gepaart mit dem immerwährenden Mutter-Tochter-Generationenkonflikt im Schnelldurchlauf. Doch der angedeutete Leidensdruck, den es ja durchaus auch genauso gibt, erschöpft sich hier in einem Jammern auf sehr hohem Niveau. Eine echte Anregung zum fortgesetzten Diskurs bietet das nur bedingt. Dazu kommt noch, dass Regisseur Sebastian Nübling nichts weiter eingefallen ist, als das Erfolgsrezept seiner Inszenierung des als Theaterstück des Jahres preisgekrönten Sibylle-Berg-Vorgängers zu wiederholen. Trotzdem, auch wegen des tollen Ensembles, eine alles in allem über die gesamten 75 Minuten recht kurzweilig unterhaltsame Angelegenheit, die ihre erheiternde Wirkung im Publikum nicht verfehlt. Ob es auch eine erhellende ist, muss sich noch beweisen.
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Stefan Bock - 25. September 2015 ID 8898
UND DANN KAM MIRNA (Maxim Gorki Theater, 24.09.2015)
Regie: Sebastian Nübling
Choreographie: Tabea Martin
Bühne: Magda Willi, Moïra Gilliéron,
Kostüme: Ursula Leuenberger
Dramaturgie: Katja Hagedorn
Mit: Sarah Böcker / Aydanur Gürkan / Suna Gürler / Rahel Jankowski / Nilu Kellner / Cynthia Micas / Fée Mühlemann / Amba Peduto / Zoé Rügen / Marie Carlota Schmidt / Çiğdem Teke / Annika Weitzendorf
Uraufführung war am 24. September 2015
Weitere Termine: 1., 23., 27. 10. 2015
Weitere Infos siehe auch: http://www.gorki.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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