Den Vogel
abgeschossen
DIE MÖWE nach Anton Tschechov
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Bewertung:
Man kann Tschechows Stücke heute als ironische Komödie oder, wie ehedem, eher melancholisch anlegen, psychologisch überfrachten, oder man kann einfach drauflos spielen. Für Letzteres scheint sich der kroatische Regisseur Bobo Jelčić vom Zagrebačko Kazalište Mladih (Zagreb Youth Theatre) bei seiner Inszenierung von Tschechows wohl bekanntestem Drama Die Möwe entschieden zu haben. Das Setting auf der Bühne wirkt hier zu Beginn, als befände man sich gerade noch in den Endproben. Während es aus dem Off hämmert und bohrt, immer wieder Bühnenarbeiter und ein aufgeregt gestikulierenden und telefonierender Jungregisseur in den Kulissen umherlaufen, sitzt sich schon mal eine der Darstellerinnen in der an der Rampe stehenden, recht abgeranzten Sitzgruppe mit geflicktem Sofa und zwei alten Sesseln warm. Sie schaut ins Publikum, tritt ab, um wenig später erneut wieder dort Platz zu nehmen.
Es ist Mascha (Katarina Bistrović-Darvaš), die unglücklich verliebt Tochter des Gutsverwalters Schamrajew, der bei Tschechow mit seinen unentwegt dargebrachten Anekdoten über Theatergrößen aus der Provinz nervt. Bobo Jelčić hat ihn gestrichen, wie auch einige andere Personen des Stücks, und verortet seine mit 80 Minuten recht kurz geratene Adaption der Möwe gleich ganz in die Welt der Künstler und Schwadroneure. Einen von ihnen muss sich dann auch Mascha vom Hals halten. In einer vollkommen unromantischen Schnellsprechvariante rattert der Lehrer Medwedenko (Pjer Meničanin) seinen aus der Vernunft heraus begründeten Heiratsantrag, dem sich Mascha erst durch Winden auf dem Sofa und dann durch eine vergebliche Flucht durch die Kulissentür zu entziehen versucht. Diesen langweiligen Scheißkerl wird sie so schnell nicht mehr loswerden, soviel steht fest.
Die andere vergeblich Hoffende ist Maschas Mutter Polina Andrejewna (Nataša Dorčić), die hier einen ausgeprägten Putzfimmel hat, und dem angebeteten aber ziemlich teilnahmslosen Arzt Dorn (Goran Bogdan) ständig mit dem Staubtuch hinterherwedelt. Dann entern aus dem Zuschauerraum die restlichen Schauspieler und Gäste des nun folgenden Stücks im Stück, das der aufstrebende Jungautor mit seiner geliebten Darstellerin Nina (Jadranka Đokić) einstudiert hat, die Bühne und beginnen einen angeregten Small-Talk, der nicht weiter übersetzt wird. Natürlich geht auch hier die Vorführung des etwas überinspirierten, nicht ganz fertig gewordenen Werks (sozusagen einem typischen „Work in Progress“) schief. Sogar die recht forsch als „Häschen aus der Zukunft“ auftretende Nina, versteht das Stück ohne Menschen nicht, und schon gleich gar nicht die Mutter und voluminöse Starschauspielerin Irina Nikolajewa (Ksenija Marinković).
Regisseur Jelčić karikiert hier witzig die herrschenden Moden am Theater, wenn er Nina aus ihrem Plot austeigen lässt, sie sich zu den Gästen auf das Sofa setzt und alle Darsteller immer wieder die Plätze und Perspektiven wechseln. Schließlich bemerken sie auch das Publikum im Saal und schauen bedeutungsvoll in die Runde. Die vierte Wand scheint gefallen, die neuen künstlerischen Formen Konstantins am Tempel der Kunst aber noch nicht ganz durchgesetzt. Jedenfalls gebärdet sich die große Diva Arkadina dementsprechend wie eine Furie und verlässt schreiend den Saal. Die sich anschließende Debatte dreht sich um die prekäre Situation der Bühnen, Künstlergagen und die Lage des kroatischen Nationaltheaters. Hier tut sich besonders der Schriftsteller Trigorin (Sreten Mokrović) hervor, der schier endlos aus seinem Sessel heraus referiert, der Arkadina lobhudelt und das letzte Geleit der darstellenden Kunst bildet. Nur der Arzt klopft dem kurzzeitig geflohenen Nachwuchsregisseur beiläufig auf die Schulter und textet ihn mit guten Ratschlägen zu.
Natürlich geht es hier auch um das langweilige Leben, Sehnsüchte und unerfüllte Liebe, die man sich auch hin und wieder gesteht. Allerdings sind die Reaktionen eher Ignoranz oder kalte Ablehnung, wenn der wütende Konstantin die schmachtende Mascha an den Haaren zerrt und kurzerhand in den Teppich einwickelt. Wir befinden uns immer noch im ersten Akt des Schauspiels, als Konstantin eine Plastikmöwe aus dem Bühnenhimmel schießt, mit der Pistole posiert und sich wenig später in den Kulissen fast selbst damit erlegt. Der zweite Akt ist komplett gestrichen, und aus technischen Gründen, wie eine Assistentin verrät, müssen nun drei Leute aus dem Publikum erstmal die Bühne aufräumen, damit es weiter gehen kann.
Nachdem Mascha mit einer langen Leiter ihre Schnapsvorräte aus dem Versteck geholt hat, säuft sie sich ihre Entscheidung für den Lehrer schön, während Trigorin weiter im Sessel sinniert und der Arkadina schließlich gesteht, in Nina verliebt zu sein. Nun wird nochmal overacted, was das Zeug hält, wenn sich die Actrise wieder in Pose wirft und die Betrogene mimt, die ihren Schriftsteller nicht verlieren will. „Wenn du mein Leben brauchst, komm und nimm es“, heißt es im Buch Trigorins. Die Menschen berühren mit einer geschrieben Zeile. Er wird sich das Leben Ninas, der Möwe, nehmen und es wieder wegwerfen. Doch das ist es letztendlich nicht, was den Regisseur interessiert. Es ist die Tragikomik gewonnen aus den verzweifelten, zwischenmenschlichen Dialogen der Figuren, die Bobo Jelčić konzentriert und radikal verknappt, aber mit viel Körpereinsatz, Witz und Slapstick ganz unsentimental immer wieder auf den Punkt bringt. Nachdem die Versöhnung der Arkadina mit Konstantin fehl schlägt und die übereilte Abreise alle aufgeregt durcheinanderlaufen lässt, setzt man sich noch einmal hin für ein sehnsuchtsvoll gesungenes „Ich werde dich nicht vergessen“. Und dem alleingelassenen, gescheiterten Konstantin bleibt nichts, außer sich aus der abgelegenen Landschaft voller langweiliger Möwen zu schießen. Vierter Akt gestrichen. Mehr braucht es auch nicht.
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Die Möwe durch ZEKAEM, Zagreb - bei den Wiener Festwochen 2015 | Foto (C) Mara Brato
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Stefan Bock - 31. Mai 2015 (2) ID 8680
DIE MÖWE (Theater Akzent, 30.05.2015)
Inszenierung, Bühne und Kostüme: Bobo Jelčić
Licht: Aleksandar Čavlek
Sound: Kruno Miljan
Stage-Management: Milica Kostanić
Besetzung:
Irina Nikolajewna Arkadina ... Ksenija Marinković
Boris Alexejewitsch Trigorin ... Sreten Mokrović
Konstantin Gawrilowitsch Treplew ... Krešimir Mikić
Nina Michailowna Saretschnaja ... Jadranka Đokić
Jewgenij Sergejewitsch Dorn ... Goran Bogdan
Polina Andrejewna ... Nataša Dorčić
Mascha ... Katarina Bistrović-Darvaš
Semjon Semjonowitsch Medwedenko ... Pjer Meničanin
und mit Hrvoje Svečnjak sowie Igor Mandić
Wiener Festwochen-Gastspiel des Zagrebačko Kazalište Mladih (ZEKAEM), Zagreb
Weitere Infos siehe auch: http://www.festwochen.at/
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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