Festival Internationale Neue Dramatik 2021
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Outside von Kirill Serebrennikow
Love von Alexander Zeldin
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Nachdem das Festival für Internationale Dramatik (FIND) im März 2020 pandemiebedingt ausfallen musste, kann Thomas Ostermeier in diesem Herbst fast schon wieder aus dem Vollen schöpfen. Zwei Produktionen, die schon im letzten Jahr nach Berlin kommen sollten, eröffneten nun das Theater-Festival in der Schaubühne am Lehniner Platz. Outside von Kirill Serebrennikov, eine knallbunte überbordende Hommage an den 2017 durch Suizid aus dem Leben geschiedenen chinesischen Fotografen Ren Hang, die der russische Regisseur aus dem immer noch bestehenden Hausarrest inszenieren musste und 2019 beim Festival d’Avignon Premiere feierte sowie das sparsame realistische Sozialdrama Love des britischen Autors und Regisseurs Alexander Zeldin, eine Koproduktion mit den WIENER FESTWOCHEN und Teil der vielbeachteten Trilogie The Inequalities (Die Ungleichheiten). Zwei Produktionen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und dadurch einen guten Einblick in das vielfältige Schaffen west- bzw. osteuropäischer TheatermacherInnen geben.
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In Love beobachtet das Publikum die Bewohner einer städtischen Einrichtung für temporär Wohnungslose. Im sehr realistisch aufgebauten Setting einer Gemeinschaftsküche mit Kühlschrank, Spülbecken und zwei Tischen begegnen sich täglich für kurze Szenen, die durch brutale Blacks zeitlich getrennt werden, ein junger Syrier, eine Frau aus dem Sudan, ein Mann um die vierzig mit seiner pflegebedürftigen Mutter und eine junge Patchwork-Familie, die gerade geräumt wurde. Love ist das große Thema dieses Stücks. Es geht hier viel um Würde und Selbstachtung, aber auch darum, sich gegenseitig zu helfen, was nicht jedem immer gelingt. So beargwöhnt man zunächst die Neuankömmlinge, will Besitzansprüche geltend machen oder streitet sich gar um eine Tasse. Auch die Gemeinschaftstoilette oder der Kühlschrank sind heißumkämpfte Orte.
„Wir haben nichts falsch gemacht“, sagt die junge schwangere Frau zu ihrem Mann, der noch zwei schulpflichtige Kinder aus einer früheren Beziehung zu betreuen hat. Neben den ständigen Gängen zum Gemeindeamt, wo sich die Familie die Zuteilung einer Wohnung erhofft, muss er auch immer wieder zum Jobcenter, das ihm bereits wegen versäumter Termine die Bezüge gekürzt hat. Ähnlich geht es dem Mann im Nachbarzimmer, der sich noch um seine alte Mutter kümmern muss. In der Enge der Unterkunft geraten die Menschen zwangsläufig aneinander. Privatsphäre gibt es hier kaum, auch nicht für die beiden Kinder, einen Jungen im Teenageralter, der sich in Gangsta-Rap übt, und seine jüngere Schwester, die sich auf eine Rolle im Weihnachtskrippenspiel vorbereitet.
Es wird geflucht, sich wieder entschuldigt und das Gespräch gesucht. Eine Zwangsgemeinschaft in der jeder Wünsche und Hoffnungen hat. Man könnte hier auch an Gorkis Nachtasyl denken, das Michael Thalheimer an der Schaubühne schon brachial in Szene gesetzt hat. Regisseur Alexander Zeldin gelingt es hier aber bei aller Banalität des eher unspektakulären, für die Bewohner aber problematischen Alltags eine Spannung zu erzeugen, die fesselt und kleine Augenblicke von magischem Realismus aufblitzen lässt, wie einen ans Fenster klopfenden Ast, den Mann, der nach einer für ihn demütigenden Szene, die Schwangere bittet ihren Bauch berühren zu dürfen, oder die alte Frau, die ihre Arme ausstreckend auf das Publikum zuläuft. Das mag kitschig klingen, gibt aber einem Publikum, das sich in der Schaubühne oft in Designerküchen selbst bespiegeln kann, mal eine ganz andere Perspektive.
Bewertung:
Ganz anders ist der oft überbordende Regiestil von Kirill Serebrennikov. Der Russe ist bekannt für die Verbindung von Live-Musik, Tanz und Schauspiel. So auch in der Produktion Outside, mit der Serebrennikov dem chinesischen Fotografen und Dichter Ren Hang ein Denkmal setzen will. Er lernte dessen Fotografien von Stadtlandschaften, Natur aber vor allem von nackten Körper junger Männer und Frauen aus seiner Umgebung durch einem Bildband kennen und wollte sofort mit ihm arbeiten, was durch dessen plötzlichen Suizid kurz vor dem ersten Treffen 2017 aber verhindert wurde.
Die Begegnung lässt Serebrennikov nun posthum in seinem Stück stattfinden, indem er zwei Schauspieler zu einem fiktiven Gespräch auf der Bühne zusammentreffen lässt. Vor der mit einem Foto von Hang tapezierten Bühnenrückwand ist ein bewegliches Fenster aufgebaut, Sinnbild für Serebrennikovs Hausarrest sowie den Rückzug- und Todesort des an Depressionen leidenden Fotografen. Hang ist zuerst wie der Schatten des Regisseurs, der über sein Gefangensein sinniert. Wie der Regisseur in Russland hatte auch Hang Probleme mit der chinesischen Staatsmacht und wurde wegen Pornografie verhaftet. Serebrennikov lässt zu Beginn die Polizei an die Tür klopfen und entwickelt daraus eine surreale, fast ballettartig choreografierte Verhörszene.
Hang möchte ein Samenkorn sein, „gerade geboren und schon begraben“. Diese Verse düsterer Poesie setzt Serebrennikov in farbenfrohe Bilder um. Sie sind inspiriert von den Fotografien Hangs. Es ist aber vor allem ein Fest des nackten Körpers. Drei Performer und zwei Performerinnen nehmen immer wieder neue Posen ein, bis hin zu einer Szene im Darkroom des Berliner Techno-Clubs Berghain. Dazu wird Musik gespielt, gesungen und aus Hangs Leben erzählt. Seiner Mutter hatte er immer nur gesagt, er würde ins Büro zur Arbeit gehen. Über sein Leben als Künstler wusste sie nichts. Viele der Tanz- und Performanceeinlagen lassen sich kaum entschlüsseln. Es geht um einen Tänzer mit dickem Hintern, oder es tauchen Symbole des chinesischen Staats auf. Es ist oft die Rede von Freiheit, einem schönen Ort, wo das Leben besser wird. Und den hat Serebrennikov nun in der Kunst gefunden.
Bewertung:
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Outside von Kirill Serebrennikov | Foto (C) Ira Polar
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Stefan Bock - 2. Oktober 2021 ID 13181
OUTSIDE (Schaubühne Berlin, 01.10.2021)
Regie: Kirill Serebrennikov
Choreografie: Evgeny Kulagin und Ivan Estegneev
Musik: Ilya Demutsky
Mit: Odin Lund Biron, Yang Ge, Georgy Kudrenko, Nikita Kukushkin, Julia Loboda, Andrey Petrushenkov, Evgeny Romantsov, Anastasia Radkova, Evgeny Sangadzhiev, Igor Sharoyko sowie Alexey Bychkov und Daniil Orlov sowie dem Musiker Andrey Polyakov
Gastspiel von M.ART (Moskau)
LOVE (Schaubühne Berlin, 01.10.2021)
Regie: Alexander Zeldin
Bühne: Natasha Jenkins
Licht: Marc Williams
Sounddesign: Josh Anio Grigg
Bewegungsregie: Marcin Rudy
Mit: Amelda Brown, Naby Dakhli, Janet Etuk, Amelia Finnegan, Oliver Finnegan, Joel MacCormack, Hind Swareldahab, Grace Willoughby und Daniel York Loh
Gastspiel von Odéon Théâtre de l’Europe (Paris)
Weitere Infos siehe auch: https://www.schaubuehne.de
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