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Heilige Weisheit

YEL von Ahmet Sami Özbudak


Getrennt und doch aufeinander bezogen: Bettina Marugg als Mutter Melinda; Laila Nielsen als ihre Tochter Thelma | Foto © Tanja Evers

Bewertung:    



Verkehrte Welt: Ein Straßenhund beobachtet das vermeintlich einfache Leben der Menschen. Ein altes Auto der Marke Lada dient ihm als Baum. Der von einem Menschen mit Ohrenmütze dargestellte „Köter“ gräbt Dinge aus dem Kofferraum bzw. unter dem Baum hervor. Diese Dinge sind Präsente einer Mutter an ihre erwachsene Tochter. Von der Mutter vorgetragene Fabeln stellen die Geschenke in eine uralte Tradition. Eine absurde Welt gerät in Bewegung: Auftretende Figuren werden von der Einsamkeit geküsst, so heißt es in sich wiederholenden Verszeilen. Es herrscht eine lodernde Fabulierlust. Mit steigendem Alkoholspiegel kommen mehr und mehr Lebenslügen ans Licht.

Doch laut Programmflyer handelt die Uraufführung des Stückes Yel von einer der letzten Kirchen in Istanbul, die noch von orthodoxen Christen genutzt werden. Das Drama vom Fringe Ensemble ist eine Koproduktion mit dem Monologlar Müzesi in Istanbul und wird parallel auch dort vor Ort aufgeführt. Denkt man an bedeutende Kirchenbauten in Istanbul, kommt einem die 537 n.Chr. eingeweihte spätrömische Hagia Sophia (vom griechischen Ἁγία Σοφία „heilige Weisheit“) in den Sinn. Sie wurde viele Jahrzehnte als Museum genutzt. Auf Geheiß des türkischen Staatspräsidenten Erdogan wurde sie 2020 wieder zur Moschee umgewidmet. Diese aktuellen politischen Vorgänge werden in Yel nicht behandelt. Denn der Blickwinkel des Hundes auf die menschlichen Lebensumstände ist naturgemäß unpolitisch. Ein Zugeständnis an die mögliche restriktive Zensur in der Türkei? Oder ist diese Hundeperspektive vor allem inspiriert von Virginia Woolfs Klassiker Flush (1933), der aus der Sicht eines Cocker Spaniels sinnlich die Biografie eines Dichterpaars erzählt?

Ismail Deniz verkörpert die Hunderolle des Erzählers Yel wenig konsistent. Er wirft mit Konfetti, knuspert Sonnenblumenkerne und tanzt Streetdance zu Rhythmen von Sezen Aksu. Auch Klimmzüge und Überschläge an der Querstange der ebenerdigen Hauptbühne, einem luftigen Gewächshaus, sorgen für Be- und Verwunderung. Auf dem Gut Ostler werden die räumlichen Möglichkeiten des idyllischen Biohofes mit einbezogen. Drumherum gibt es Esel und Hühner zu bestaunen. Wenn Bettina Marugg als Melinda zur Flasche greift, belebt sie auch ihre Fantasiewelt. Ihr heftiger Zug wird von einem Schlauchguss auf das Planen-Dach begleitet. Sie reißt Platten aus dem Gewächshausboden, gräbt in der Erde und schmiert sie ins Gesicht. Trotzdem wirkt sie als übergriffige Mutter wenig geerdet, wenn sie ihre Tochter Thelma in den Hühnerstall sperrt, weil diese die alte Heimat verlassen möchte. Tanzte Thelma (Laila Nielsen) anfangs noch selbstverloren mit Kopfstimme fiepsend, geben nun Videoprojektionen aus dem Hühnerkäfig bittere Monologe preis. Auch sie hütete Geheimnisse vor der religiösen Mutter, als sie Ikonen verscherbelte. Zuvor hatten beide noch synchron Einigkeit und Gottesfurcht demonstriert „Wenn Gott hinter uns steht, dann kann uns nichts mehr passieren.“ Das absurde Stück wird schlussendlich auch durch David Fischer als Flitzer bereichert, der um das Gewächshaus herum auch beeindruckend lebensecht als sich selbstständig bewegende Vogelscheuche agiert. Wuff und Prost – Am Ende ist im Istanbuler Stadtteil Balat, wo das Stück spielen soll, nicht nur sprichwörtlich der Hund begraben.

Auch am Aufführungsort selbst stehen leider bald große Veränderungen an: nach über einem Vierteljahrhundert schließt Gut Ostler als biodynamischer Landwirtschaftsbetrieb und ökologischer Lernort seine Tore. Vielleicht liegt hier die bedeutungsschwerste Conclusio; nämlich eine zwischen dem Vorführungsort und der Open Air-Uraufführung, die vom Verlassen der Heimat und dem einhergehenden Verlorengehen alter Traditionen handelt.



Ismail Deniz in der Titelrolle Yel, der Hund in der Geschichte | Foto © Tanja Evers

Ansgar Skoda - 5. Juli 2021
ID 13019
YEL (Gut Ostler, 02.07.2021)
Text: Sami Özbudak
Konzept und Regie: Frank Heuel und Sami Özbudak
Digitales Konzept und Raum: Annika Ley
Mit: Ismail Deniz, David Fischer, Laila Nielsen und Bettina Marugg
Uraufführung war am 1. Juni 2021.
Koproduktion des fringe ensemble (DE) mit dem Monologlar Müzesi (TR)


Weitere Infos siehe auch: https://www.fringe-ensemble.de/


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