Rühr mich nicht an!
Oder der Rest ist Schweigen
Das 57. THEATERTREFFEN der Berliner Festspiele ist wegen der Corona-Krise als virtuelle Variante mit 6 der 10 ausgewählten Inszenierungen zum Streamen ins Internet verlegt worden
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Gleich eine dreifache Premiere bietet das 57. THEATERTREFFEN der Berliner Festspiele in diesem Jahr. Zum ersten Mal gab es das Gebot einer 50-prozentigen Frauenquote für die 10er-Auswahl der Theatertreffenjury, die mit sechs zu vier im Verhältnis der Regisseurinnen zu den Regisseuren sogar übererfüllt wurde. Zum ersten Mal musste die Jahresleistungsschau aber auch abgesagt werden. Schuld daran sind bekanntlich die Maßnahmen zur Eindämmung des neuartigen Corona-Virus. Ebenfalls neuartig und somit die dritte Premiere ist, dass das THEATERTREFFEN kurzerhand ins Internet verlegt wurde. Es findet also statt, trotz aller Widrigkeiten, nur eben nicht wie gewohnt vor zahlendem Publikum in den dafür vorgesehenen Spielstätten der Hauptstadt, sondern wie so vieles im Moment als digitale Variante in der virtuellen Welt. Man weiß nicht so recht, ob man sich darüber freuen oder verzweifeln soll.
Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach, heißt es in einem alten Sprichwort. Also feiern wir gezwungener Maßen die Auferstehung des aus der Öffentlichkeit in die Isolation der Heime verbannten Live-Theaters als Netz-Event. Schauspielkunst per Mouse-Klick für Daheimgebliebene. Geübt darin sind die meisten unter uns ja schon durch die vielen Streaming-Angebote der Theater, die so versuchen, den Kontakt zum Publikum nicht ganz zu verlieren. Einen Eingebildeten Kranken gibt es in der Auswahl der Jury zwar nicht, doch soll das Theater nicht auf Dauer zum Patienten werden, bedarf es bald anderer Lösungen, die Kunst an den Mann und natürlich (passend zur Quote) an die Frau zu bringen. Wir schauen also gespannt in die Röhre oder besser auf den Flachbildschirm, natürlich passend zur Theaterkunst mit Maske und einem weinenden und lachenden Auge.
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Nun zur Auswahl der 10 bemerkenswerten Inszenierungen. Zum Auftakt zeigt das virtuelle THEATERTREFFEN den Bochumer Hamlet in der Regie des dortigen Intendant Johan Simons. In der Hauptrolle ist Sandra Hüller [s. Foto unten] zu sehen, also mal wieder eine Schauspielerin in der Rolle des großen Shakespeare’schen Zauderers. Hier hat es noch mit der bereits angekündigten 3sat-Aufzeichnung geklappt, so dass die Qualitätseinbußen bei der Transformation des Bühnenereignisses ins TV-Format nicht allzu groß ausfallen. Sandra Hüller kennen eh viele ZuschauerInnen mittlerweile vor allem aus dem Kino, wo sie etwa in der Rolle einer Unternehmensberaterin im preisgekrönten Film Toni Erdmann brillierte. So fällt die Umstellung auf das dramatische Fach im Stream (die Inszenierung ist zudem eine Woche auch in der 3sat-Mediathek abrufbar) gar nicht so schwer.
Für ihre eher zurückgenommene Darstellung des dänischen Racheprinzen erhält Sandra Hüller außerdem den Theaterpreis Berlin. Ihr Hamlet ist auf der Suche nach nichts geringerem als der Wahrheit, wie es in der Ankündigung des Theaters heißt. „Bestechend strenges Understatement ist Programm auf der von Gefahr umkreisten Bühne von Johannes Schütz.“ lässt zudem das Statement der TT-Jury verlauten. So behutsam und nur körperlich sparsam choreografiert wird wohl auch das künftige Theater mit Corona aussehen. Was die Leistung von Hüller & Co. keineswegs schmälern soll. Rein emotional lässt die Inszenierung jedenfalls nichts zu wünschen übrig. Und spartanisch eingerichtete Bühnen mit viel Platz für Abstand sind wohl das Gebot der Stunde „in turbulenten Zeiten“. "Der Staat ist aus den Fugen“, wie es im Hamlet so schön heißt. Und der Kunst fehlt scheinbar jede Möglichkeit, ihn wieder einzurenken. Sein oder Nichtsein ist da nicht nur billige Rhetorik.
Das ganze Gegenteil ist die von purer Körperlichkeit nur so strotzende Performance Tanz der Wiener Regisseurin und Choreografin Florentine Holzinger. Ihre Inszenierung arbeitet zudem ausschließlich mit der expliziten Ausstellung des weiblichen Körpers, setzt diesen aber selbstbestimmt gegen den Drill im klassischen Ballett und die Deutung als Projektionsfläche männlicher Phantasien in Szene. Holzinger dürfte es in naher Zukunft damit wesentlich schwer haben, auf eine Bühne zu kommen, auch wenn beim Durchbohren von Haut alle Regeln der Desinfektionskunst eingehalten werden.
Überzeugen kann man sich von dieser Körperkunst beim virtuellen THEATERTREFFEN leider nicht. Dafür stehen eher verkopfte Inszenierungen von Katie Mitchell und Anta Helena Recke mit ebenfalls jeder Menge Frauen auf dem virtuellen Programm. Mitchell setzt am Hamburger Schauspielhaus mit der Uraufführung von Alice Birchs Stück Anatomie eines Suizids weiter auf die Darstellung düsterer Frauenschicksale, hier in einer Studie über Depression und Lebensangst dreier Generationen von Frauen. Reckes leider recht didaktisch und theoretisch wirkende Performance Die Kränkungen der Menschheit hat dagegen aktuelle Fragen von Gender und Race in der abendländischen und zudem überwiegend männlich geprägten Kunstgeschichte zum Thema.
Ebenfalls eine Frau spielt die Hauptrolle in Claudia Bauers Leipziger Inszenierung von Tennessee Williams Drama Süßer Vogel Jugend. Auch hier spielen Rassismus und Frauenfeindlichkeit keine ganz unbedeutende Rolle. Im Zentrum steht aber die alternde Schauspielerin Alexandra del Lago, die mit ihrem jüngeren Liebhaber Chance Wayne in dessen Heimatstadt St. Cloud absteigt und sich mit ihm eine Beziehungsfede vom Feinsten liefert. Ein Schauspielfest für die zu Höchstform auflaufende Anita Vulesica. Dokutheater gibt es mit der freien Produktion Chinchilla Archloch, was was. Regisseurin Helgard Haug von Rimini Protokoll lässt in ihrer Inszenierung drei Menschen mit dem Tourette-Syndrom über ihre Ticks, Eigenarten und Besonderheiten plaudern.
In The Vacuum Cleaner, der zweiten Einladung für die Münchner Kammerspiele in der Regie des Japaners Toshiki Okada geht es um sogenannte Hikikomori, Menschen, die sich aus dem gesellschaftlichen Leben ins eigene Heim zurückgezogen haben, was natürlich zur Corona-Krise bestens passt. Aus der Sicht eines Staubsaugers wird hier eine dieser typischen verkorksten Familien vorgestellt. Technik, die die TT-Jury begeisterte. Im Stream, der schon in der virtuellen vierten Kammer der Münchner Kammerspiele zu sehen war, überzeugte das nur bedingt. Da war Okadas letzte Inszenierung No Sex über vier abstinent lebende junge Männer wesentlich agiler.
Vom Deutschen Theater Berlin kommt Molières Komödie Der Menschenfeind in einer Inszenierung von Anne Lenk, die dem Klassiker auch eine neue, speziell weibliche Deutung gibt. Lachen mit und über Misanthrop Alceste, verkörpert von Theaterstar Ulrich Matthes. Allerdings erst wieder nach der vorsichtigen Öffnung der Theater, für die sich u.a. auch Intendant Ulrich Khuon einsetzt, mit der man aber nicht vor September wird rechnen können. Ebenfalls aus dem virtuellen Rahmen einer Streamingvorführung fällt der Zürcher Beitrag Der Mensch erscheint im Holozän. Trotz des 3sat-Preises für Regisseur Alexander Giesche kommt dessen Inszenierung nach dem Roman von Max Fritsch nicht zu digitalen Ehren, da es schlicht an einer solchen Konserve mangelt.
Ein Schicksal, das Giesche mit Antonio Latella und seiner, wie man hört, fulminanten Interpretation von Federico Bellinis Eine göttliche Komödie nach Dante und Pasolini teilt. Beide Inszenierungen sind abgespielt und wie die meisten Produkte des flüchtigen Live-Mediums Theater für die Nachwelt verloren. Das könnte man ebenso bedauern wie die Tatsache, dass gerade nur noch Aufgezeichnetes den Weg zu den Theaterinteressierten findet, sieht man mal ab von den mehr oder weniger gelungenen Versuchen, Theater live im Internet zu inszenieren. Kaum Inhalt, weniger Kunst. Wie es auf den Bühnen weitergeht, entscheiden momentan kunstferne Politiker und Virologen. „Ist dies nicht Wahnsinn, so hat es doch Methode“, möchte man angesichts der verschiedenst motivierten Lockerungsszenarien sagen. Der Rest ist Schweigen.
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Sandra Hüller in der Hamlet-Inszenierung am Schauspielhaus Bochum | Foto (C) JU Bochum
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Stefan Bock - 2. Mai 2020 ID 12206
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinerfestspiele.de/de/theatertreffen/start.html
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