Entlang der Grenze.
Vom Gehen auf schmalem Pfad
BORDERLINE am Residenztheater München
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Bewertung:
Korea ist seit 1948 geteilt in Nord und Süd. Deutschland war von 1949 bis 1990 geteilt in Ost und West. Am 3. Oktober vor 30 Jahren fand die Wiedervereinigung statt. Eine Blaupause für das immer noch geteilte Korea oder ein ferner Wunschtraum?
Zwei Jahre lang hat ein Team um den Journalisten und Theatermacher Jürgen Becker zusammen mit südkoreanischen Kollegen und Flüchtlingen aus Nordkorea an dieser Dokufiktion gearbeitet. Sie sollte an dem historischen Datum des 3. Oktober 2020 zusammen mit südkoreanischen Schauspieler*innen in München uraufgeführt werden. Leider konnten diese aufgrund von coronabedingten Reiserestriktionen nicht nach Deutschland kommen. Gespielt wurde dennoch live: in München um 18 Uhr abends, in Seoul um 1 Uhr nachts, die Koreaner wurden ihrem deutschen Kollegen Florian Jahr in München per Video zugeschaltet. Eine technische und künstlerische Herausforderung, die zu einem überzeugenden, nicht selten anrührenden Resultat führte.
Eine Handvoll Schauspieler erzählt Fluchtgeschichten, indem sie in die Rolle der interviewten Flüchtlinge schlüpfen. Von Ben, einem jungen Mann, der aus einem Obdachlosenheim in Nordkorea ausbrach – in Todesangst. Jeden Morgen habe ein Regierungsbeamter in einem Holzwagen die Kinder weggebracht, die in der Nacht gestorben, verhungert seien. Seine Mutter, die es schon nach Südkorea geschafft hatte, habe das Bestechungsgeld zusammenkratzen können, das ihn über die Grenze brachte. Sein geliebter Bruder sei aber geblieben. Eine offene Wunde. Oder die Geschichte von Grace, einer jungen Frau, die als Kind an der Hand ihrer Mutter zu Fuß nach Südkorea kam. Der Vater sei von einem Geschäftspartner denunziert worden und im Gefängnis gestorben. Noch heute wage sie es nicht, ihrem Freund von ihrer Herkunft zu erzählen. Denn viele Südkoreaner wollten mit denen aus dem Norden nichts zu tun haben: die nehmen uns nur Jobs weg, heiße es oft.
Eine Haltung, die man auch in Deutschland antrifft. Das kann auch der Schauspieler Florian Jahr bestätigen. Er kam vor vielen Jahren aus dem Osten Deutschlands, musste die falschen Klamotten, den falschen Akzent und so manche Illusion loswerden, bevor er sich integrieren konnte.
Was ist das überhaupt – Integration? Wie mit den Ängsten und Vorurteilen gegenüber Neuankömmlingen umgehen? Wie den mehr oder weniger offenen Diskriminierungen begegnen? Ist in Korea das möglich, was in Deutschland geschehen konnte? Wie verhalten sich Flüchtlinge ihrerseits, wenn sie später anderen Flüchtlingen begegnen - kaum, dass sie ein wenig Fuß gefasst haben in der neuen Heimat? Was bleibt in ihnen zurück? Wo verläuft ihre „innere Grenze“? Fragen, Gedanken, Traumata, Wünsche, Erinnerungen, die auch das persönliche Leben der Darsteller triggern. Einiges daraus fließt in die erzählten Lebensläufe ein. Zum Beispiel die Trennung von der eigenen Familie. Auch dort, wo es kein äußeres Kontakt-Hindernis gibt. Manchmal ist eben nur ein Brief an die Mutter möglich ...
Am stärksten wirkt diese dokufiktionale Collage dann, wenn die karge Inszenierung Bilder entstehen und wachsen lässt. Wenn Florian Jahr erzählt, wie er zusammen mit seinem Vater an seinem ersten Tag im Westen „Grenzspringen“ spielte, wie er immer wieder über diesen einen Grenzstreifen hüpfte, dort, wo zuvor geschossen wurde. Diese Szene werden am Ende auch die Mitspieler in Seoul aufgreifen. „Grenzspringen“ auf belebter Straße, auf dem Zebrastreifen oder vor einer klinisch weißen Kulisse, die die Menschen so verletzlich erscheinen lässt, so einsam. Wie gut, dass manchmal einer (Florian, der Deutsche) einfach in die Videoprojektion hineintritt.
Vor allem das Gehen: Schweigend schreiten Menschen die vielleicht gefährlichste Grenze der Welt ab - Borderline. Gefilmt von hinten mit dem Rücken zum Betrachter, links der Zaun, die Todeszone, rechts Gestrüpp. Der Pfad ist schmal.
Ein durchaus gelungenes Experiment (eine Koproduktion von Residenztheater, Creative VaQi und der Producer Group DOT), dem ganz offensichtlich viel Recherche vorausging. Der Abend könnte allerdings hie und da noch verdichtet werden. Allzu breiten Raum nahm etwa der Exkurs über die Situation 2015 am Beispiel von Wegscheid ein, so einleuchtend die Parallele auch ist.
Mir genügten die Einblicke in die gespaltenen Seelen und Biographien der Menschen aus Nord- und Südkorea, wunderbar gespiegelt in den Gesichtern von SoHyun Bae, Sunglc Jang, KyungMin Na und BumJin Woo.
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Florian Jahr, SoHyun Bae, KyungMin Na, SungIc Jang und BumJin Woo (v.l.n.r.) in Borderline am Residenztheater München | Foto (C) Judith Buss
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Petra Herrmann - 5. Oktober 2020 ID 12513
BORDERLINE (Marstall, 04.10.2020)
DOKUFIKTION VON JÜRGEN BERGER
Inszenierung: Kyungsung Lee
Bühne: Seung Ryul Shin
Sounddesign: Haesoo Eshu Jung
Video: Hez Kim
Licht: Uwe Grünewald und KyuYeon Hwang
Dramaturgie: Jürgen Berger
Künstlerische Produktionsleitung: HeeJin Lee
Technische Leitung in Korea: Yo Chan Kim
Mit: SoHyun Bae, Florian Jahr, SungIc Jang, KyungMin Na und BumJin Woo
Uraufführung am Residenztheater München: 3. Oktober 2020
Weitere Termine: 05., 06.10.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.residenztheater.de/
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