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Uraufführung

Tilmann Köhler bringt Thomas Freyers

Stück über die verschwiegene dunkle

Geschichte des DDR-Antifaschismus

zur Uraufführung

STUMMES LAND am Staatsschauspiel Dresden

Bewertung:    



War die DDR wirklich der antifaschistische Musterstaat auf deutschem Boden? Oder wie lassen sich heute die Erfolge der AfD gerade im Osten erklären? Diese Frage beschäftigte bereits 2019 die aus Dresden stammende Autorin Ines Geipel in ihrem Buch Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. Einen Monat bevor Regisseur Armin Petras Geipels hochaktuelle wie schmerzhafte Geschichtsaufarbeitung Ost in Cottbus auf die Bühne bringt, wird am Staatsschauspiel Dresden im Kleinen Haus das Stück Stummes Land aus der Feder von Thomas Freyer uraufgeführt.

Stummes Land als sprechender Titel trifft es ziemlich gut, was Geipel anhand ihrer eigenen Familiengeschichte feststellt. Nicht nur im Westen, auch im Osten des geteilten Landes wurde die Nazivergangenheit nach dem Krieg nicht genügend aufgearbeitet. Das Schweigen des Staates vor allem auch zur dunklen Causa des kommunistischen Widerstands im KZ Buchenwald übertrug sich auf die Familien. Stalinismus, familiäre und staatliche Gewalt sowie der verordnete Antifaschismus der aus der sowjetischen Immigration zurückgekehrten Ulbrichtgruppe, der sich gerade an dem Mythos Buchenwald festmachte, sorgten für ein Klima von Angst, Schweigen und Verdrängung.

Das ist heute gerade im Osten eines der größten Probleme fehlender Aufarbeitung und als These für vermehrten Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit nicht von der Hand zu weisen. Freyer lässt dazu in seinem Stück vier ehemalige Schulfreunde um die 40 zu einem weinseligen Abendessen zusammentreffen. Benjamin Pauquet, Karina Plachetka, Oliver Simon und Fanny Staffa sitzen um einem Tisch auf der Hinterbühne des kleinen Haus 1, trinken Wein und teilen alte Anekdoten. Alkohol lockert bekanntlich die Zunge und so ist man nach etwas Smalltalk und ein paar Gemeinplätzen über Gentrifizierung und dem Vergleich von globalem Jetsetten mit dem Landleben im Speckgürtel mit Familie und Kindern schnell beim Thema Flüchtlinge und Rassismus angekommen. Befeuert wird das noch durch eine Art von zynischem Wahrheitsspiel, bei dem jeder aus der Runde mal eine Geschichte über den eigenen kleinen Rassisten in sich zum Besten geben darf.

Die liberale Mittelschicht, die nichts gegen Ausländer hat, sich bewusst ernährt und sich im Verein für Gleichberechtigung engagiert, zeigt ihr wahres Gesicht. Da wird aus der These von der vermeintlichen Chancengleichheit ein "Jeder ist seines Glückes eigener Schmied". Der türkische Nachbar wird beargwöhnt, syrische Großfamilien im Park beim Jugendamt angezeigt, und man ist froh, dass der im Müll wühlende Obdachlose kein Flüchtling ist. „Wir haben es von unseren Vätern gelernt.“ ist die genetisch bedingte Ausrede und Ausgangspunkt für die nun folgende Geschichtsstunde, an deren Anfang krachend ein verschnürtes Paket mit den Leichen der Vergangenheit aus dem Schnürboden fällt und das kurze, zum Thema einführende Konversationsstück abrupt beendet.

Wer Ines Geipels Buch gelesen hat, ist klar im Vorteil. Freyer hat sich sicher auch daran orientiert. Seine Fälle, die das Quartett auf der Bühne in kleinen familiären Dramoletten aus der ostdeutschen Provinz mit Kostümen und Requisiten aus dem Paket vorspielt, greifen zurück bis zum 17. Juni 1953, der von den DDR-Oberen als faschistischer und vom Westen initiierter Anschlag dargestellt wurde, und gehen über den Mauerbau 1961 und die Verfolgung algerischer Vertragsarbeiter in den 1970er Jahren in Erfurt bis zum antifaschistischen DDR-Kultort KZ Buchenwald, wo die Jugend der DDR jährlich mit großen Fahnenappellen zur Jugendweihe auf den Antifaschismus eingeschworen wurde. Ein vielstimmiges „Nie wieder Krieg“, während in Erfurt Neonazis skandierten und die Stasi alte SS-Aufseher zur operativen Mitarbeit anwarb. Regisseur Tilmann Köhler bebildert recht sparsam, lässt höchstens mal Akten durch die Luft fliegen, verfremdet das Deutschlandliedsingen und lässt im Run um den Tisch immer wieder Figuren des Buchenwald-Denkmals darstellen.

Dass sich Freyer in diesem Teil so stark an das Buch von Ines Geipel anlehnt, obwohl er auch eigene kleine Familiengeschichten in die DDR-Historie einflicht, mag ein Manko sein, die beklemmende Situation im sehr intimen Raum der Hinterbühne macht diese Kammer-Inszenierung aber zum eindrücklichen Erlebnis, an dessen Ende noch ein kanonartiger Chor von Dörflern bei einem fremdenfeindlichen Angriff fast lyrisch seine Ressentiments herauslässt und sich in einem vom Schnürboden schwebenden Käfig einzäunt. Alles nur ein Traum und morgen wieder weg, vom Schnee verdeckt, beruhigen die Eltern ihre Kinder. Das System Schweigen funktioniert noch immer.



Applaus nach der Uraufführung von Stummes Land am Staatsschauspoiel Dresden | Foto: Stefan Bock

Stefan Bock - 28. September 2020
ID 12490
STUMMES LAND (Staatsschauspiel Dresden, 25.09.2020)
von Thomas Freyer

Regie: Tilmann Köhler
Bühne: Karoly Risz
Kostüme: Susanne Uhl
Musik: Matthias Krieg
Licht: Olaf Rumberg
Dramaturgie: Uta Girod
Mit: Benjamin Pauquet, Karina Plachetka, Oliver Simon und Fanny Staffa
Live-Musik: Matthias Krieg
Uraufführung war am 25. September 2020.
Weitere Termine: 02., 11., 24.10.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsschauspiel-dresden.de


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