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Die Lage von Thomas Melle, uraufgeführt am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein

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Eigentlich erstaunlich. Da gibt es ein Thema, das jeden betrifft, aber in der Gegenwartsliteratur spielt es so gut wie keine Rolle: die Ökonomie des Wohnens. Nun hat Thomas Melle dazu ein Theaterstück geschrieben, und das Schauspiel Stuttgart hat es, coronabedingt mit fünfmonatiger Verspätung, uraufgeführt. Es heißt schlicht Die Lage und meint doppeldeutig die Lage, in der sich der Wohnungssuchende befindet, sowie die Lage einer Immobilie.

Tina Lanik hat die Folge von lose zusammenhängenden Szenen zum Thema als Groteske inszeniert, in der die Darsteller wie Kunstfiguren sprechen und sich bewegen. Mit ihren blonden Perücken sehen sie aus wie aus dem Playmobil-Arsenal. Reihum werden sie zu Wohnungssuchenden, die zur (erschwinglichen) Miete wohnen oder zu (erschwinglichen) Preisen Eigentum erwerben wollen, oder zu Maklern, die ihnen das einzureden versuchen. Ihre Dialoge bestehen zu einem großen Teil aus Floskeln, die ihre sozialen Rollen kennzeichnen. Sie werden von Erzählungen in der dritten Person unterbrochen. Ein Video auf den im rechten Winkel hinten auf einander zulaufenden Wänden zeigt, was eben beschrieben wurde. Dann wieder tun sich Räume hinter den Wänden auf, die jedoch eher Bilder als Bedeutung schaffen. Aus dem Rahmen fällt, buchstäblich, nur der Obdachlose (Boris Burgstaller), der unter einer Küchenzeile schläft.

Melle zitiert Stichwörter aus Brechts Gedicht An die Nachgeborenen und lässt die Reizvokabel „Revolution“ auf eine Fläche schreiben, gefolgt von einem Video, das mit Wolf Biermann an eine Wahrheit erinnert, nämlich „aus Mündungen kommt die Macht ja und kommt aus den Mündern nicht“: ein Hauch von 1968 inmitten des siegreichen Kapitalismus. Alle drei Männer – und nur sie – ziehen sich splitternackt aus und sorgen so, auf die Theatergeschichte umgerechnet, für Geschlechtergerechtigkeit.

Die Regisseurin holt aus dem kleinen Ensemble – neben Burgstaller Josephine Köhler, Marietta Meguid, Jannik Mühlenweg und dem diesmal besonders komischen Sebastian Röhrle, der potentielle Mieter zur „Akustikprobe“ laut stöhnen lässt – ein Optimum an schauspielerischer Virtuosität heraus. Leicht macht es ihr der Autor mit seinem handlungsarmen Stück nicht. „Die Miete ist die soziale Frage unserer Zeit“, heißt es an einer Stelle. Das ist zwar keine sonderlich originelle Erkenntnis, und sie ist auch nur halb richtig – sie galt auch schon für die Zeit von Hans Fallada, Friedrich Wolf oder Erich Kästner –, aber es ist verdienstvoll, wenn man die Theaterbesucher und Theaterbesucherinnen daran erinnert, dass es kein Naturgesetz gibt, das das Menschenrecht auf Wohnen weniger hoch einschätzt als den Schutz von Eigentum.




Die Lage von Thomas Melle, uraufgeführt am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein

Thomas Rothschild - 27. September 2020
ID 12489
DIE LAGE (Kammertheater, 25.09.2020)
von Thomas Melle

Inszenierung: Tina Lanik
Bühne: Stefan Hageneier
Kostüme: Stefan Hageneier / Lara Roßwag
Video: Birgit Stoessel
Licht: Stefan Maria Schmidt
Dramaturgie: Ingoh Brux, Bastian Boẞ und Christina Schlögl
Mit: Boris Burgstaller, Josephine Köhler, Mariette Meguid, Jannik Mühlenweg und Sebastian Röhrle
Uraufführung am Schauspiel Stuttgart: 18. September 2020
Weitere Termine: 29.09. / 01.-04.10. / 30.11. / 01.-08.12.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de/


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