Hallein,
Rosa-
Luxemburg-
Platz
HUNGER bei den Salzburger Festspielen
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Marc Hosemann in Hunger | © Salzburger Festspiele / Matthias Horn
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Bewertung:
Und wenn nun einer behauptete, der Kaiser sei nackt? Die Kaisertreuen würden ihn zum Banausen erklären. „Siehst du denn nicht“, würden sie sagen, „der Kaiser trägt ein prächtiges Gewand, und die Sonne kreist um die Erde.“
Nun ja, nackt ist er nicht, der Kaiser, aber sein Gewand ist rissig geworden, und überall scheint die getragene Unterwäsche durch. Castorf ist Castorf ist Castorf – nicht weniger, aber auch nicht mehr.
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Frank Castorf | © Thomas Aurin
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Die Feuerprobe, die bestehen muss, wer in seinen Weisheitstempel eindringen will, legen die Zuschauer bei den SALZBURGER FESTSPIELEN in der unerträglich aufgeheizten Saline auf der Halleiner Pernerinsel ab. Wer dort sechs Stunden übersteht, braucht nichts mehr zu fürchten. Als Hilfestellung wird am Eingang kostenlos eine Wasserprobe – eine Flasche Mineralwasser – verteilt.
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Ob bei Dostojewski, bei Bulgakow oder bei Platonow, ob bei Hans Henny Jahnn oder bei Knut Hamsun: einige wenige Lieblingsautoren passen fast immer für ein Zitat. Zumindest bei Frank Castorf. Ob man das nun für Stil hält oder für Besessenheit, hängt davon ab, ob man zu Castorfs Fangemeinde gehört oder nicht. Für die Gläubigen gilt wie bei allen Gurus von Stefan George bis Timothy Leary des Meisters Wort. Diesmal kommen, eher atypisch, zu den zitierten Quellen Wolfgang Neuss mit seinem Lied vom Wirtschaftswunder aus dem Film Wir Wunderkinder und Helmut Qualtinger mit seinem Herrn Karl hinzu.
Ist die Wiederholung des immer gleichen, zudem längst hundertfach kopierten Verfahrens noch Handschrift (wie bei Pollesch, bei Marthaler, bei Fritsch) oder Einfallslosigkeit? Ist der Trick mit den Schauspielern, die hinter Wänden und vor einer Videokamera agieren, wirklich funktional, egal um welchen Stoff es sich handelt? Ist es, bloß weil es nun mal die Videotechnik gibt wie zu Piscators Zeiten das Fließband oder im Film die computergenerierten Bilder, gleichgültig, ob ein verborgenes, verheimlichtes, konspiratives oder ein öffentliches Geschehen gezeigt wird?
Einmal mehr müssen Fremdzitate und Videokameras für einen Erzähler, nicht für einen Dramatiker herhalten. Und wiederum: ob sich ausgerechnet eine Ich-Erzählung, die von inneren Vorgängen berichtet, für die Bühne anbietet, werden die Castorf-Fans und die Neutralen wohl unterschiedlich beurteilen. Castorf hat neben Hamsuns erstem Roman Hunger von 1890 auch Fragmente aus Hamsuns zwei Jahre später erschienenen Mysterien adaptiert.
Eins jedenfalls hat Frank Castorf begriffen: Die pure Länge seiner Inszenierungen verleiht ihnen eine Bedeutung, die allfällige Kritik der Neutralen oder gar der Skeptiker ins Unrecht setzt.
Der hungrige Antiheld von Hunger ist eine Art Zwischenfigur zwischen Raskolnikow und dem Landvermesser K. Er füllt fast allein die erste Hälfte des Abends, dann kommen episodisch weitere Figuren hinzu. Johan Nilsen Nagel allerdings, die zentrale Figur von Mysterien und einer der Nietzscheaner in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts, kann sich bei Castorf nicht so klar profilieren wie im Roman. An seinem Darsteller, an Lars Rudolph, liegt das nicht.
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Lilith Stangenberg und Lars Rudolph (re.) in Hunger | © Salzburger Festspiele / Matthias Horn
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Ein Plakat wirbt für „Das neue Norwegen“ des als Gattungsbegriff verewigten Vidkun Quisling. Der aber wurde erst 1933 Parteiführer der norwegischen Faschisten. Es ist bekannt, dass der Nobelpreisträger von 1920 ein glühender Anhänger der Nationalsozialisten wurde. Aber ist es zielführend, diese Wahrheit in zwei Werke aus den Jahren 1890-92 zu implementieren? Gibt es in diesen Hinweise auf Hamsuns spätere Verirrungen? Es existiert ja ein Stück über Knut Hamsun und die Problematik seiner Biographie. Es heißt Eiszeit, wurde von Tankred Dorst und Ursula Ehler geschrieben und seit seiner Uraufführung durch Peter Zadek kaum mehr gespielt. Aber Hamsuns erste zwei Romane eignen sich für solch eine Auseinandersetzung nicht mehr als die Reise ans Ende der Nacht für eine Kritik an Louis-Ferdinand Céline (den Castorf übrigens, gleich zwei Mal, ebenfalls „dramatisiert“ hat). Vom Hunger zum Germanischen Norwegen und zur SS führt kein gerader Weg.
Unruhig wird das Publikum, und die Ersten verlassen die Vorstellung bei längeren Dialogen, die sich im Kreis zu bewegen scheinen und keine erkennbare Aussage haben, die zudem von keinerlei Aktion begleitet werden. Hier scheint Knut Hamsun Ionesco vorwegzunehmen und Frank Castorf die Pop Art.
Wer Castorf liebt, liebt(e) auch Bert Neumann und Aleksandar Denić. Neumann ist tot, Denić bewahrt die Volksbühnenästhetik vor dem Aussterben. Diesmal hat er ein Haus auf die Bühne gebaut, das an das Holzhaus des Georgiers Vajiko Chachkhiani auf der jüngsten Biennale in Venedig erinnert. Auf einer Seite der Drehbühne sieht man die Front eines Verlags, der den Namen von Hamsuns zweitem Roman trägt. Auf der anderen Seite verblüfft täuschend echt ein McDonald‘s. Man darf schon fragen, ob dieser Hyperrealismus der Moderne letzter Schluss ist.
Musik, mal lauter, mal leiser, bildet den akustischen Background und liefert so etwas wie eine Gliederung. Dass Hunger trotz mancher Schwächen – jedenfalls für jene, die nicht zur Castorf-Gemeinde gehören – zu interessieren vermag, verdankt sich dem fast durchweg fabelhaften Ensemble, allen voran Kathrin Angerer, Sophie Rois und Marc Hosemann. Es belegt einmal mehr, dass Regie- und Schauspielertheater kein Widerspruch sind und dass es ein Verbrechen war, dieses Ensemble zu zerschlagen.
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Marc Hosemann, Kathrin Angerer und Sophie Rois (v.l.n.r.) in Hunger | © Salzburger Festspiele / Matthias Horn
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Thomas Rothschild – 7. August 2018 ID 10834
HUNGER (Perner-Insel, Hallein | 06.08.2018)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Lothar Baumgarte
Sounddesign: William Minke
Kamera: Andreas Deinert und Kathrin Krottenthaler
Videoschnitt: Jens Crull und Maryvonne Riedelsheimer
Tonangel: Dario Brinkmann und William Minke
Dramaturgie: Carl Hegemann
Mit: Kathrin Angerer, Marc Hosemann, Rocco Mylord, Josef Ostendorf, Sophie Rois, Lars Rudolph, Lilith Stangenberg und Daniel Zillmann
Premiere zu den Salzburger Festspielen war am 4. August 2018.
Weitere Termine: 10., 11., 13., 15., 17., 20.08.2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.salzburgerfestspiele.at
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