Leben und
Sterben einer
einfachen Frau
EVERYWOMAN von Milo Rau und Ursina Lardi
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Foto (C) Salzburger Festspiele/ Armin Smailovic
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Bewertung:
100 Jahre Salzburger Festspiele sind 100 Jahre Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes aus der Feder von Hugo von Hoffmannsthal gehört zu Salzburg wie die Nockerln, die Mozartkugeln oder der Schnürlregen. Die Salzburger Festspiele sind heuer das einzige in Präsenz mit Publikum stattfindende Theaterfestival und mittlerweile auch schon wieder Geschichte. Es herbstet arg, und Europa wankt in den nächsten Corona-Shutdown, da lässt es sich gut übers Sterben philosophieren. Der Schweizer Theatermacher Milo Rau ist mit seiner Jedermann-Neufassung Everywoman von der Salzach an den Berliner Kudamm gezogen. Die Schaubühne beginnt zwar erst mit der Theaterspielzeit, aber schon wieder droht das baldige Ende.
Ihre „Jedefrau“ haben Regisseur Rau und seine Lieblingsdarstellerin Ursina Lardi (Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs) in der 71-jährigen Berlinerin Helga Bedau gefunden. Die an nicht operablem Bauchspeicheldrüsenkrebs Erkrankte hatte während des ersten Corona-Shutdowns, in dem die Berliner Theater geschlossen waren, einen Brief an Ursina Lardi geschrieben und sich gewünscht noch einmal vor ihrem Tod auf der Bühne zu stehen. Als Rosalind in Romeo und Julia hatte Bedau in ihrer Jugend einen ersten Auftritt in der Freien Volksbühne. Nun haben ihr Rau und Lardi diesen letzten Wunsch zumindest teilweise erfüllt. Per Videoeinspielung ist die trotz schlechter Prognosen immer noch Lebende an einer großen gedeckten Festtafel sitzend zu sehen und zu hören. Doch zunächst eröffnet Ursina Lardi den 80-minütigen Abend mit einem Monolog über ein Ereignis aus ihrem eigenen Leben, das, wie soll es anders sein, vom unerwarteten Sterben handelt. Als Kind war sie einmal auf einer Galopprennbahn, wo ein strauchelndes Rennpferd unmittelbar vor ihr stürzte und mit gebrochenem Bein und verzweifeltem Blick immer wieder versuchte aufzustehen.
Ein starkes Bild zum Einstieg, bei dem Lardi auch noch etwas über die eigene Theaterarbeit erzählt. Eine Schwerstarbeit gleich dem Schieben von Findlingen, die es in den durch die Gletscher entstandenen Schweizer Bergtälern gibt. Wohl auch eine Art Sisyphos-Assoziation. Der Stein liegt im von Anton Lukas geschaffenen Bühnenbild, wo im kleinen feuchten Halbrund des Schaubühnen-Globes auch ein Klavier, ein Kassettenrekorder und mehrere Umzugskisten stehen. Lardi stimmt ein auf einen Abend ohne Handlung, Dialoge und Katharsis. Eine Moral könne sie heute nicht bringen. Das funktioniere eh nicht mehr. Der schönste Moment sei für sie immer der Augenblick, bevor es losgeht. Ein stummes Gehen über die Bühne, wie die Mutter des Jedermann, die um die Erlösung ihres Sohnes weiß. Wie könnte heute in der säkularen Gesellschaft so eine Erlösung aussehen? Davon erzählt das Stück, indem es versucht den verdrängten Tod wieder zurück ins Leben zu holen.
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Eine Erlösung kann diese recht minimalistische Inszenierung natürlich nicht liefern. Das Publikum lernt die 1968 aus dem westfälischen Lünen an der Lippe nach Berlin gezogene Lehrerin Helga Bedau in der Erzählung von Ursina Lardi kennen. Ein gelebtes Leben mit ihrer Zeit in einer WG (Neil Young klingt aus dem Rekorder) Demonstrationen vor der Deutschen Oper, frühe Ehe und Geburt des Sohns, der später zu seinem Vater nach Griechenland geht, wo Bedau auch begraben werden möchte. Dafür benötigt sie die Gage, nach der sie Ursina Lardi in den kleinen Dialogen im Video fragt. Auch Lardi stellt Fragen, die sich sehr direkt um die Krankheit und das Sterben drehen. „Wie kann es mich treffen?“ fragt Bedau. Da ist auch etwas von Zorn. Aber kann so ein Abend einen Menschen und sein Sterben wirklich erfassen? Das muss selbst Milo Rau aufgegangen sein. Die Binse, dass jeder Mensch vor dem Tod gleich ist, lässt sich so kaum erklären. Nur die Angst vor der Einsamkeit vor dem Tod ließe sich wohl durch so einen gemeinschaftsbildenden Theaterabend etwas nehmen.
Allerdings geht dafür der Text nicht genug in die Tiefe. Es überwiegen doch die etwas salbungsvollen, metaphysisch angehauchten Theaterreflexionen Lardis gegenüber den kurzen nüchternen Sätzen Helga Bedaus. „Warum gibt es nichts Neues vom Tod.“ fragt Lardi einmal. Ist das Sterben tatsächlich ein auserzähltes Drama? Dazu hätte man gern mehr erfahren. So erzählt Ursina Lardi am Ende wieder von einem Davor, diesmal von der kurzen, erwartungsschwangeren Leere vor dem ersten Applaus, als käme da noch etwas. Auch das könnte man als Metapher auf den Tod lesen. Letztendlich sucht der Abend nicht wie im Jedermann Trost im Glauben, sondern wieder in der Musik, die sich Bedau für ihren Tod wünscht und etwas Sommerregen dazu. Ursina Lardi am Klavier und die Bühnentechnik machen es möglich: Bach und Schnürlregen. Ein bisschen Mitfühlen im Theater ist also auch heute noch erlaubt. Und im Leben wie im Sterben sowieso.
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Everywoman von Milo Rau und Ursina Lardi | Foto (C) Salzburger Festspiele/ Armin Smailovic
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Stefan Bock - 21. Oktober 2020 ID 12541
EVERYWOMAN (Globe, 20.10.2020)
Regie: Milo Rau
Bühne und Kostüme: Anton Lukas
Video: Moritz von Dungern
Sound: Jens Baudisch
Dramaturgie: Carmen Hornbostel und Christian Tschirner
Recherche: Carmen Hornbostel
Licht: Erich Schneider
Mit: Ursina Lardi und Helga Bedau (im Video) sowie Georg Arms, Irina Arms, Jochen Arms, Julia Bürki, Keziah Bürki, Samuel Bürki, Achim Heinecke und Lisa Heinecke (im Video)
Uraufführung bei den Salzburger Festspielen: 19. August 2020
Premiere an der Schaubühne Berlin: 15. Oktober 2020
Weitere Termine: 21.-31.10. / 01.-09.11.2020
Koproduktion mit den Salzburger Festspielen
Weitere Infos siehe auch: https://www.schaubuehne.de/
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