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Welt in

Trümmern



Orest in Mossul am Schauspielhaus Bochum | Foto © Fred Debrock

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Gewalt erzeugt Gegengewalt. Schon in der Antike beschrieb Aischylos den tragischen Circulus vitiosus aus Mord, Schmerz und Rache und erneutem Mord im Zusammenhang mit dem Krieg um eine Stadt im Vorderen Orient. Seine Orestie ist derzeit wieder öfter auf dem Spielplänen der Theater zu sehen; so etwa in Stuttgart und in Bonn.

Am Schauspiel Bochum inszeniert nun Milo Rau die antike Tragödie. Der Leiter des belgischen Nationaltheaters Gent reiste mit seiner Crew nach Mossul. Die irakische Großstadt war jahrelang Hochburg der Terrororganisation Islamischer Staat. Die Terrorherrschaft kostete tausende Menschenleben. Es gab Massenexekutionen, kriegerische Konflikte, Bombenangriffe und Sprengungen von Altertümern. Junge Frauen wurden von IS-Milizen entführt und zwangsverheiratet. Homosexuelle wurden vom Dach eines früheren Luxuskaufhauses in den Tod gestürzt. Jede Biografie der Bewohner Mossuls weist Parallelen zu den Figuren in der Tragödie des Aischylos auf. Bis heute leben die Menschen vor Ort in Angst. In der fast völlig zerstörten Stadt verstecken sich weiterhin geschätzte 3.000 sogenannte Schläfer der Terrormiliz.

Der Schweizer Milo Rau arbeitete für Orest in Mossul vor Ort mit irakischen Schauspielern. Die Schauspieler, Schauspielschüler und Laien durften nicht nach Deutschland einreisen, sodass Rau zahlreiche Filmaufnahmen in Mossul machte. Schauspielerische Szenen vor der Kulisse der zerstörten Stadt werden als Video-Einspieler auf Großbildleinwand während der Vorführung in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses projiziert. Neben den irakischen Darstellern in den Filmaufnahmen geben sich auf der Bühne unter anderem Elsie de Brauw als Klytemnästra, Johan Leysen als Agamemnon und Risto Kübar als Orest zu erkennen. Gesprochen wird Niederländisch, Arabisch und Englisch mit deutschen und englischen Übertiteln. Wiederholt werden Ausschnitte einer Klavierversion von „Mad world“ aus dem Off eingespielt. Das szenische Spiel wechselt mit Monologen der Darsteller, die von ihren persönlichen familiären Hintergründen, traumatischen Erlebnissen, Anschlägen und anderen Kriegserfahrungen berichten. Die Schauspieler spielen teilweise auch Tonaufnahmen ab, die sie in Mossul mit Opfern des Dschihad machten.

Orest in Mossul wird so als komplexes Real-Theater, realistisches Erzähltheater oder theatralische Reflexion dargeboten und wirft einen neuen, moderneren Blick auf die griechische Tragödie. Susana AbdulMajid, die die Kassandra spielt, erklärt, sie habe irakische Wurzeln, denn ihre Mutter komme aus Mossul und ihr Vater aus dem Süden des Irak. Sie beschreibt Mossul als eine der ältesten Städte der Menschheit, die seit 7.000 Jahren (also schon vor der Zerstörung von Troja) durchgehend bewohnt war.

Insbesondere die sehr realistisch dargestellten Gewaltszenen lassen einen als Zuschauer mitunter frösteln. So wird etwa die verschleierte Baraa Ali in der Rolle der Iphigenie nach einem längeren Monolog grausam erdrosselt. Das Tribunal am Ende der Orestie wurde zweimal, am Anfang und am Ende der Proben in Mossul, wiederholt. Athene wird hier ausdrucksstark durch Khitam Idris Gamil verkörpert, deren Mann von Al-Quaida exekutiert wurde, da er kein Schutzgeld zahlen wollte. Die irakischen Schauspieler wurden gefragt, ob sie den Mördern ihrer Familie verzeihen können oder ihnen die Todesstrafe auferlegen würden. Beide Male ist es für die Schauspieler undenkbar, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen und ehemaligen IS-Kämpfern einfach zu verzeihen.

Die Gewalttätigkeit und Brutalität, die den kriegerischen Auseinandersetzungen des Terrorregimes zu eigen ist, wird den Zuschauern durch die dokumentarischen Bilder und die persönlichen Geschichten sehr direkt nahegebracht. In der Antike sind die Figuren noch dem Gesetz der Götter und damit ihrem ganz persönlichen Schicksal ausgeliefert. Gegenwärtig beruft sich der IS auf Allah, wenn er grausamste Verbrechen begeht. Aber auch für den aufgeklärten Menschen stellt sich das Geschehen der letzten Jahre als nahezu ausweglos dar: aufgehetzte Gruppierungen, Warlords, Interessen größerer Hegemonialmächte an kostbaren Ölfeldern und Raffinerien, skrupellose Waffenhändler (und –hersteller!) führen zu einem schier endlosen Krieg. Das in der heutigen Zeit mit dieser antiken Handlung beschrieben zu sehen macht den eigentlichen Wert dieser Inszenierung aus.



Orest in Mossul am Schauspielhaus Bochum | Foto © Fred Debrock

Ansgar Skoda - 6. Juni 2019
ID 11474
OREST IN MOSSUL (30.05.2019, Kammerspiele Bochum)
Text: Milo Rau und Ensemble nach Aischylos
Regie: Milo Rau
Dramaturgie: Stefan Bläske
Bühne: Ruimtevaarders
Kostüme: An De Mol
Licht: Dennis Diels
Film, Live-Kamera: Moritz von Dungern
Mit: Duraid Abbas Ghaieb, Susana AbdulMajid, Elsie de Brauw, Risto Kübar, Johan Leysen, Bert Luppes und Marijke Pinoy
Uraufführung am NTGent: 17. April 2019
Premiere am Schauspielhaus Bochum: 17. Mai 2019
Eine Produktion von Schauspielhaus Bochum und NTGent


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielhausbochum.de


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