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Premierenkritik

Sieben

plus eine

Todsünden



Die sieben Todsünden & Motherland am Theater Freiburg | Foto (C) Paul Leclaire

Bewertung:    



Da ist dem Theater Freiburg, das – so ungerecht ist nun mal der Kulturbetrieb – abseits des Trampelpfads der reisenden Theaterscouts liegt, ein Coup gelungen. Es konnte für Die sieben Todsünden von Kurt Weill und Bertolt Brecht den zurzeit an den großen Häusern viel gefragten ungarischen Film- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó gewinnen und mit ihm gleich auch eine veritable Burgschauspielerin, die des Ungarischen mächtige Deutsche Nora Buzalka.

Die sieben Todsünden sind nach der Gattungsangabe ihrer Autoren ein "Ballet chanté" und wurden 1933, kurz nach der „Machtergreifung“, in Paris von dem großen Choreographen George Balanchine in Auftrag gegeben. Mundruczó verzichtet auf die Tänzerin und lässt Anna 2 stattdessen von Nora Buzalka spielen. Die Stelle des Tanzes nehmen Gänge und Positionen ein – etwa eine horizontale Lage mit den Füssen auf einer Stuhllehne und dem Kopf auf einem Spülbeckenrand.

Das Stück erzählt von den Todsünden der Faulheit, des Stolzes, des Zorns, der Völlerei, der Unzucht, der Habsucht und des Neids, die – in Verkehrung der verkündeten christlichen Moral, nicht unbedingt ihrer Praxis – Voraussetzung sind, damit die doppelt besetzte Anna das Geld verdienen kann, das sie benötigt, um ihrer Familie ein Haus am Mississippi zu bauen.

Auch in dieser Inszenierung scheint Video unverzichtbar. Bei der Premiere hat der Regisseur höchstpersönlich die Kamera geführt. Ihre Funktion scheint sich allerdings darauf zu beschränken, auch den Zuschauern auf den Rängen die Gesichter mittels Großaufnahme erkennbar zu machen.

Weil Die sieben Todsünden nur 35 Minuten dauern, werden sie in der Regel irgendwie ergänzt. Für Freiburg hat die langjährige Mitarbeiterin von Mundruczó, Kata Wéber, einen etwa gleich langen Einakter mit dem Titel Motherland geschrieben, der das Meisterwerk von Weill und Brecht umrahmt. Die Nachbarschaft tut ihm nicht gut und kostet den Abend das fünfte "K" in der Bewertung. Kata Wéber fügt den sieben Todsünden eine achte hinzu: die Todsünde der Selbstüberschätzung. Der platte Naturalismus und vor allem die (aus dem Ungarischen übersetzte) uninspirierte Sprache wirken neben Brechts nach wie vor bestechenden Manierismen wie die Gehversuche eines Anfängers im dramatischen Schreiben. Untermalt wird Motherland mit einem nicht sehr einfallsreichen elektronischen Musikteppich von Asher Goldschmidt, der sich zu Weills Komposition verhält wie Wébers Text zu jenem von Brecht. „Modern“, belehren uns Goldschmidt wie Wéber, heißt nicht: näher an der Gegenwart. Modern sind die Die sieben Todsünden, auch heute noch, 87 Jahre nach ihrer Entstehung.

Motherland handelt sehr eindimensional von der Abrichtung eines Mädchens durch ihre ehrgeizige Mutter. Man kann nicht umhin, die beeindruckende schauspielerische Leistung der zehnjährigen Sinja Neumann als Ergebnis eines Dressuraktes zu bestaunen, der jenem gleicht, dem die Figur unterzogen wird.

Für beide Stücke, die ohne Pause in einander übergehen, haben Márton Àgh und der Regisseur drei realistisch ausgestattete Räume auf zwei Ebenen gebaut. Mehr Aufwand, als unbedingt nötig.

Den eigentlichen Höhepunkt des Abends aber liefert die Musik, die sich durchaus an der Dreigroschenoper und an Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, an das sie stellenweise stark anklingt, messen lässt. Die Österreicher HK Gruber, der sich seit langem gewissenhaft mit Kurt Weill beschäftigt, und der Jazzer, Dirigent und Komponist Christian Muthspiel haben 2019 eine reduktionistische (und also auch in kleineren Theatern aufführbare) Fassung der Partitur für 15 Spieler hergestellt, die in Freiburg uraufgeführt wurde. Der schlanke Klang schadet dem Stück nicht im geringsten, zumal er den charakteristischen Weill-Sound beibehält. Ektoras Tartanis dirigiert das Philharmonische Orchester Freiburg mit Schwung und Konzentration, Inga Schäfer ist eine vorzügliche, im Vergleich zu Interpreten wie Marianne Faithfull oder Peaches geradezu „opernhafte“ Anna 1, die 1933 von Lotte Lenya dargestellt wurde, und die Herren Roberto Gionfriddo, Jin Seok Lee, Junbum Lee und John Carpenter, wie Inga Schäfer zum hauseigenen Ensemble gehörend, geben Annas schamlose Familie in satirisch stilisierter Darstellung sängerisch durchweg erfreulich.

Am Schluss, nach dem Ende von Kata Wébers Motherland, produziert sich das domestizierte Kind als die Tänzerin, die dem Ballett abhanden gekommen ist. Inga Schäfer singt, a cappella, den Anfang der Sieben Todsünden. Das letzte Wort gehört Weill und Brecht. Gut so.



Die sieben Todsünden & Motherland am Theater Freiburg | Foto (C) Paul Leclaire

Thomas Rothschild – 17. Juli 2020
ID 12358
DIE SIEBEN TODSÜNDEN & MOTHERLAND (Theater Freiburg, 16.07.2020)
Musikalische Leitung: Ektoras Tartanis
Regie und Konzept: Kornél Mundruczó
Adaption: Kata Wéber
Bühne: Márton Ágh und Kornél Mundruczó
Kostüme: Pia Salecker
Musik (zu Motherland): Asher Goldschmidt
Dramaturgie: Rüdiger Bering und Soma Boronkay
Mit: Nora Buzalka, John Carpenter, Roberto Gionfriddo, Jin Seok Lee, Junbum Lee, Sinja Neumann und Inga Schäfer (in alphabetischer Reihenfolge) sowie MusikerInnen des Philharmonischen Orchesters Freiburg
Premiere/Uraufführung war am 16. Juli 2020.
In Kooperation mit Proton Theatre Budapest


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater.freiburg.de


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