Vernichtende Diagnose über den digital vereinsamten Mittelstand im permanenten Hassmodus
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(C) Esra Rotthoff
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Bewertung:
„Neue Stufe der Evolution“ (wie behauptet) oder doch nur traurige Loser und „Trollis“, das ist die Frage nicht, wie sich allein schon aus den Kostümen der DarstellerInnen von Teresa Vergho von selbst erkennen lässt. Und nein, es geht in Hass-Triptychon - Wege aus der Krise, dem neuen Stück von Sibylle Berg, nicht um das Bashing von Rollkoffer-Touristen, sondern um die Krise des digital vereinsamten Mittelstands-Bürgers. Mann, Frau, hetero oder schwul, hier kriegt jeder sein Fett weg. Als Kreuzung zwischen felligem Monchichi und trolligem Hobbit mit Fledermausohren stehen Bruno Cathomas, Jonas Grunder-Culeman, Johannes Meier, Abak Safaei-Rad, Aram Tafreshian und Çiğdem Teke etwas bedröppelt auf er Bühne des Maxim Gorki Theaters. Alkoholprobleme, nervende Teenager-Kinder, kein oder nur ein ungeliebter Zeitarbeits-Job, einsamer alternder Schwuler oder Cis-Mann ohne Beziehung, kein oder nur ungenutztes Potential, jeder und jede hat hier so ihr Lebens-Päckchen zu tragen. Zumindest hatte man mal Ambitionen. Aber nun bleibt nur noch das Shoppingvergnügen am Wochenende. Weitere Freuden sind Hasskommentare in Internetforen, das Demütigen von Supermarktkassiererinnen oder der Wunsch, sich von den in der Unterführung rumlungernden Kids verprügeln zu lassen, um überhaupt mal etwas zu spüren.
Anamnese und Befund von Sibylle Berg sind ernüchternd, aber wie immer nicht ohne schwarz-humorigen Sarkasmus. Zur Uraufführung brachte das Stück der vielbeschäftigte Regiejungstar Ersan Mondtag bereits im Mai bei den Wiener Festwochen. Und wie bereits in Salome steht auch diesmal Gaststar Benny Claessens auf der Bühne, die Nina Preller mit Projektionen grauer Häuserfronten auf Sperrholz ausgestattet hat. Die abgehängte deutsche Mittelklasse wohnt am Autobahnzubringer, dem schönsten wohlgemerkt. Allein das würde schon für eine gepflegte Dauerdepression reichen. Aber ein Therapeut steht bereit. Claessens im weißen Gewand eines Zauberers von Oz bietet Hilfestellung zum sogenannten Weg aus der Krise und zieht ansonsten eine One-Man-Benny-Show vom Feinsten ab.
Eine „Therapie in drei Flügeln“ verspricht der selbsternannte „Hass-Master“. Zuerst das ungeliebte Zuhause, dann der verhasste Arbeitsplatz, zwischen denen der deutsche Mittelstands-Troll beständig pendelt, und schließlich die finale Lösung mit Gang zur Waffenausgabe. Ein weinerlicher Seelen-Striptease von aufgepumpten Jammerlappen („Die Welt gibt es nur um mich zu ärgern. Aber vielleicht weiß sie gar nicht, dass es mich gibt.“), denen der Führer durch den Abend in Überbewertung seiner Kompetenzen immer wieder die Leviten liest. Claessens gibt den Egoshooter, fällt ein ums andere Mal aus der Rolle und improvisiert, was ihm so aktuell einfällt. Das ist frech, unkorrekt und überkandidelt, aber nicht unwitzig. Regisseur Mondtag lässt ihn machen und hält sich mit seinem üblichen Hang zum übersteigerten Bilder-Ästhetizismus zurück. So können Bergs Text und die gereimten Zwischensongs ihre volle Wirkung entfalten. Mit der Musik von Beni Brachtel hat das fast schon Revue-Charakter. Als halbnackter Glitzer-Tänzer lässt Claessens dann auch lasziv die Langhaar-Perücke wallen.
Bergs vernichtende Diagnose für den „Haufen Fleisch, der leben will“ lautet Langeweile und Dummheit. Den Menschen hält doch nur der Hass wach.“ Als „Ausweg aus Ihrem absurden Menschsein“ sieht die Autorin aber nur die Selbstausrottung der Menschheit, die Hand am Hinterlader, und das nicht nur im Amoklauf eines Schülers. „Die Jagd! Ausdruck von belebendem Hass“ kann also beginnen. So sparsam das Spiel der Trolle zu Anfang ist, kommt hier noch mal etwas Leben in die Bude, denn: „Wir müssen hassen, um zu leben.“ Aber bis die Spezies Mensch ausgestorben ist, beschließt Benny-„Hassmaster“, „kann man noch viel Spaß mit ihr haben.“ Und zumindest der ist an diesem Abend auch garantiert. Auf das man sich dabei möglichst selbst erkenne.
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Hass-Triptychon - Wege aus der Krise von Sibylle Berg | Foto (C) Judith Buss
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Stefan Bock - 19. Dezember 2019 ID 11896
HASS-TRIPTYCHON - WEGE AUS DER KRISE (Maxim Gorki Theater, 17.12.2019)
Regie: Ersan Mondtag
Musik/Komposition: Beni Brachtel
Bühne: Nina Peller
Kostüme: Teresa Vergho
Licht: Rainer Caspar
Musikalische Einstudierung: Lukas Rabe
Sounddesign: Max Lange
Dramaturgie: Ludwig Haugk
Mit: Bruno Cathomas, Benny Claessens, Jonas Grunder-Culeman, Johannes Meier, Abak Safaei-Rad, Aram Tafreshian und Çiğdem Teke
Uraufführung bei den Wiener Festwochen war am 24. Mai 2019.
Berlin-Premiere: 17. November 2019
Weitere Termine: 05., 21.01.2020
Eine Produktion des Maxim Gorki Theaters in Koproduktion mit den Wiener Festwochen
Weitere Infos siehe auch: https://gorki.de
Post an Stefan Bock
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