Ohne Religion
und
Privateigentum
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Imaginary Europe am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein
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Bewertung:
Burkhard C. Kosminski hält es mit Goethes Theaterdirektor: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“ Anders als sein Vorgänger Armin Petras und ähnlich wie sein Kollege Viktor Schoner von der Oper als Nachfolger von Jossi Wieler setzt er eher auf Vielfalt als auf eine rigide ästhetische Konzeption. Im ersten halben Jahr seiner Stuttgarter Intendanz hat er ein breites Spektrum von Attraktionen und Handschriften ganz unterschiedlicher Herkunft und kunsttheoretischer Voraussetzungen angeboten, vom englischen Klassikübermaler bis zu Peaches, vom strengen Literaturtheater einer Mateja Koležnik bis zum anarchischen Körpertheater einer Bernadette Sonnenbichler. Jetzt hat er auch ein Feld betreten, mit dem man zurzeit punktet, und das man – um der Gerechtigkeit willen muss es erwähnt werden – drüben bei Werner Schretzmeier im Theaterhaus schon seit Jahren bestellt: das Feld des interkulturellen Zusammenspiels, der Reaktion des Theaters auf eine Welt der sich öffnenden (und wieder schließenden) Grenzen. Was einst als Bedingung des Sprechtheaters galt, die tadellose Beherrschung der Nationalsprache, steht heute zur Disposition. An ihre Stelle tritt auch auf der Bühne die Vielfalt, das Zusammenwirken verschiedener Traditionen, Biographien und eben der Sprachen. Warum das mit einem Bekenntnis zu Europa verbunden sein muss, warum das japanische, lateinamerikanische oder afrikanische Theater für ein internationales Ensemble weniger erhellend sein sollte als das polnische oder kroatische, bleibt ein Geheimnis und verdankt sich wohl der Tatsache, dass die Ersetzung des Nationalismus durch einen Europa-Egoismus heute besser klingt als die aus der Mode gekommene beschworene und praktizierte „Internationale Solidarität“. Robert Menasse geistert auch am Stuttgarter Theater umher.
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Der zu Recht gefeierte aus Bosnien stammende Regisseur Oliver Frljić, der in Stuttgart bereits Romeo und Julia inszeniert hat, wurde mit der Leitung eines Europa Ensembles betraut, das aus Schauspielerinnen und Schauspielern aus Deutschland, vom renommierten Warschauer Nowy Teatr und vom Zagreber Jugendtheater besteht. Sein erstes Projekt heißt Imaginary Europe und verarbeitet Texte von Peter Weiss, J.B. Savigny und Alexandre Corréard, Walter Benjamin und Heiner Müller. Zu einer Europa-Feier lässt sich Frljić allerdings zum Glück nicht hinreißen. Näher liegen ihm Kritik und Satire. „Wir sind Europa und niemand sonst“, verkünden seine jungen Schauspieler. Frljić veräppelt auch das gängige Kunstgeschwafel und den Umarmungskitsch.
Imaginary Europe ist ein Flickenteppich aus Anekdoten, Zitaten, Assoziationen, gespickt mit Provokationen, die freilich nicht immer aufgehen. Da fragt einer: „Wann war Deutschland am effektivsten?“, und alle ziehen sich nackt aus. Bilder von Konzentrationslagern drängen sich auf, zugleich aber spekuliert Frljić mit der Entrüstung über Nacktheit auf der Bühne. Bilder von Malewitsch, Géricault, Delacroix und, mit Walter Benjamins Angelus Novus, Paul Klee werden analysiert, Vorträge mit verteilten Sätzen, vorwiegend in der heutigen Lingua franca Englisch, und unter Verzicht auf Dialoge gehalten. Kostüme erinnern daran, dass hier Theater gespielt wird, aber szenisch findet auf der Bühne nicht viel statt.
In der Pause darf sich das Publikum an der Zusammenlegung eines Puzzles beteiligen, während eine Schauspielerin von ihrem Durchfall und ihrem Erbrechen erzählt und wo es in Stuttgart die besten Brezeln gibt. Ihr schwuler kroatischer Kollege hofft in Deutschland seinen Ehemann zu finden. Bei der Improvisation liegen Anarchie und Dilettantismus nah bei einander.
Am Schluss wird der gekreuzigte Jesus Christus als siebtes Mitglied des Ensembles vorgestellt. Nicht die Blasphemie ist skandalös, sondern die Anspruchslosigkeit der infantilen Witze. Jesus propagiert ein Europa ohne Religion und Privateigentum. Schön und gut. Aber zu Ende gedacht, bedeutet das ein Europa ohne Jesus Christus. Ob die Subvention, für sie sich das Ensemble am Anfang halb artig, halb ironisch bedankt, auch gewährt würde, wenn man das ausspräche?
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Imaginary Europe am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein
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Thomas Rothschild – 11. April 2019 ID 11347
IMAGINARY EUROPE (Kammertheater, 10.04.2019)
Konzept, Inszenierung und Bühne: Oliver Frljić
Kostüme: Sandra Dekanić
Licht: Jörg Schuchardt
Dramaturgie: Carolin Losch
Übertitel: Agnieszka Fietz
Mit: Tenzin Kolsch, Claudia Korneev, Tina Orlandini, Adrian Pezdirc, Jasmina Polak und Jan Sobolewski
Premiere am Schauspiel Stuttgart: 10. April 2019
Weitere Termine: 11.-13., 15.04.2019
Eine Zusammenarbeit zwischen dem Schauspiel Stuttgart, dem Nowy Teatr, Warschau und dem Zagreb Youth Theatre (Zagrebačko kazalište mladih)
Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-stuttgart.de
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