Atemlos an der
Fahrrinne des
Lebens
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Christoph Gummert (li.) und Daniel Stock in Lenz am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Am Leben zu scheitern ist für viele wohl die größte Angst. Die herausfordernde Corona-Krise birgt insbesondere für freischaffende Künstler Existenzängste. Auch früher hatten Künstler enorme Ängste. Mit ihren Lebensentwürfen passten sie oft nicht in die bürgerliche Gesellschaft. Nach dem Shutdown und der Sommerpause präsentiert das Theater Bonn als eine der ersten Premieren Lenz (1836) von Georg Büchner. Die posthum veröffentlichte Erzählung handelt von einem Künstler, der an seinem Schicksal und den Widersprüchen in der Wirklichkeit scheitert. Das aufwühlende Psychogramm wird in der pausenlosen, etwa zweistündigen Inszenierung von Armin Petras mit harten Brüchen wie Ironie, Sarkasmus und Softpop-Musik versetzt.
Die zerklüftete, in Grautönen gehaltene Bühne von Tom Musch wartet mit imposanten Elementen auf. Im Stückverlauf werden wechselnde, effektvolle Objekte vom Bühnenhimmel herabgelassen. Es gibt einen Spalt im Boden und einen steil ansteigenden Flügel, auf dem die Darsteller steigen und agieren. Ein notdürftiges Bett und Stroh am linken Bühnenrand deuten an, dass die Titelfigur Gast eines Pfarrhauses wird.
Büchners Lenz bezieht sich auf das Lebensende des realhistorischen deutsch-baltischen Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), dessen Drama Die Soldaten: Eine Komödie (1776) als Oper von Bernd Alois Zimmermann gelegentlich wiederentdeckt wird. Auch Büchners Lenz wurde von Wolfgang Rihm zu einer Oper verdichtet.
Die Lenz-Prosa ist eine sehr fundamentale realistische Darstellung eines Menschen in einer Krise, die ganz von innen her zu kommen scheint und sein Verhältnis zur Welt stört, zerstört und auflöst. Wirklichkeit und Wahn geraten immer mehr durcheinander. Bruchstückhaft findet der psychisch kranke Lenz alles lächerlich, entsetzlich und ist dann wieder für kurze Momente getröstet – insbesondere durch den wohlmeinenden Pfarrer Oberlin (Daniel Stock).
Drei junge Darsteller im braunen Gehrock (Annina Euling, Christian Czeremnych, Christoph Gummert) sprechen chorisch die ersten Worte der Erzählung. Sie spielen Lenz gleichzeitig und später schauspielerisch aufgeteilt im Wechsel. Nicht nur die Zuschauer tragen beim Einlass Mund-Nase-Bedeckung wegen der Pandemie. Auch auf der Bühne werden wegen des nicht einhaltbaren Abstandsgebots vielfach Masken getragen. Diese Gesichtsbekleidung ist jedoch auch ein effektvolles Symbol der Unnahbarkeit, Undurchdringlichkeit und des fehlenden gelingenden Kontakts zwischen Lenz und seinen letzten Weggefährten. Lenz findet nur wenige Zuhörer, die seine Weltsicht und Maßstäbe der persönlichen Existenz teilen. Er begegnet Zweifeln und wird depressiv.
In den stärksten Momenten der Inszenierungen hinterfragen die drei Lenz-Darsteller Kunst kritisch. Christian Czeremnych erklärt etwa in einem Exkurs, dass Kunst lebendig, mehrebig und verformbar sein müsse. Als Lenz bezeugt er seinen unbedingten Willen, ein intensives Leben führen und spüren zu wollen. Er holt einen Zuschauer auf die Bühne – Markus – der ihm jedoch auch keine Antwort auf seine Sinnsuche gibt.
Ganz im Sinne von Lenz‘ Kunstidee unterbricht Petras die Vorführung durch einen Film, in dem die Darsteller eigene Kraftorte vorstellen. Bei Annina Euling ist es die Verenaschlucht bei Solothurn in der Schweiz, bei Daniel Stock eine Kletterhalle in Bonn-Beuel, bei Christoph Gummert eine Fischräucherei auf Usedom und bei Czeremnych das Metall-Kunstwerk L'Allumé auf der Bonner Rheinpromenade. Die Darsteller betonen unter anderem in den selbstgedrehten Kurzfilmen, warum sie eigentlich Schauspieler geworden sind. Dieser Job helfe ihnen, sich ins ungewisse Leben zu werfen und auch mal jemand anders sein zu können.
Neben der filmischen Ebene sorgt in Petras Inszenierung auch eine musikalische Ebene für Vielstimmigkeit. Not gonna get us vom russischen, vorgeblich lesbischen Pop-Duo t.A.T.u. wird eingespielt, wenn Lenz das Zwiegespräch mit einem weiblichen Gegenüber sucht. Trettmanns Rap-Gesang aus Geh Ran übertönt bald eine Konversation in der Oberlin Lenz mit sich wiederholenden Floskeln einen Abschied und eine Heimreise zu dessen Eltern nahelegt: „Dein Telefon es klingelt/ irgendwer ruft an/ als wäre alles so wie immer/ doch du gehst nicht mehr ran.“ Am Ende erklingt aufdringlich eine bekannte Melodie einer Blockbuster-Reihe. Eine basslastige alte Leier übertönt hier Lenz eigenes Lebensleid.
Die Aufteilung der zentralen Figur auf drei Darsteller irritiert anfangs etwas. Es wirkt arg assoziativ und improvisiert, wenn sich die männlichen Darsteller auf der Bühne synchronen Atemübungen und einem Wettbewerb im Luftanhalten hingeben. Wirklich originell ist es auch nicht, wenn ein Lenz-Darsteller mehrfach „HERZ“ auf ein Papier krakelt und dann die Zeichnung mit Wasser übergießt. Albern mutet es gar an, wenn Steckenholzpferde aus einem Eimer getränkt werden. Lenz wahnhafte Erkrankung und das Ver- und Entrückte einer Psychose und Schizophrenie geraten ein bisschen ins Hintertreffen. Es braucht buchstäblich einen langen Atem, um am Ende die Radikalität und Poesie in den Gedanken Büchners und Lenz‘ wiederzuentdecken.
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Lenz am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Ansgar Skoda - 14. September 2020 ID 12462
LENZ (Schauspielhaus, 11.09.2020)
Regie: Armin Petras
Bühne: Tom Musch
Kostüme: Katja Strohschneider
Musik: Jörg Kleemann
Licht: Sirko Lamprecht
Dramaturgie: Carmen Wolfram
Mit: Annina Euling, Christian Czeremnych, Christoph Gummert und Daniel Stock
Premieren am Theater Bonn: 10. / 11. September 2020.
Weitere Termine: 18., 190.9. / 01.,02., 08., 09., 14., 22., 31.10. / 07.11.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de/
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