Nacktes Fleisch,
eine glatte Hülle
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Seán McDonagh als Alexander und Sophia Burtscher als Titelheldin in Nora am Schauspiel Köln | Foto © Krafft Angerer
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Bewertung:
Helge Malchow saß noch vergangenen Donnerstag mit Alice Schwarzer bei ihrer Lesung im Depot 1 im Bühnenbild zur neuen Inszenierung von Nora. Das klinisch kalte, karge, helle und bedrückende Bühnenbild von Regisseur Robert Borgmann hat sich seit der Lesung kaum verändert. Während der Vorführung kommen jedoch effektvoll verschiedene Requisiten zum Einsatz. Zwei große Monitore und ein das Bühnengeschehen beobachtender Rabe oder Adler sind oberhalb der Bühne platziert. Alice Schwarzer antwortete Malchow, dass Henrik Ibsens Emanzipationsdrama heute von namhaften Feministinnen kritisiert und bemäkelt werde. Tatsächlich geht der Klassiker des Norwegers vielen Autorinnen in seiner Offenlegung der auch im Privaten patriarchal organisierten Gesellschaft nicht weit genug. Elfriede Jelinek schrieb so Ibsens bürgerliches Beziehungsdrama schonungslos fort, mit ihrem 1980 in Graz uraufgeführten Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, oder Stützen der Gesellschaften. Die Österreicherin zeigt in ihrem dramatischen Debüt einen desillusionierten Blick auf weibliche Befreiungsversuche, indem sie gesamtgesellschaftliche ökonomische Werte und patriarchale Zusammenhänge offenlegt. Wer sich also heutzutage Nora oder Ein Puppenheim auf der Bühne widmet, sollte sich fragen, was einem das Drama heute noch sagen kann?
Im Kölner Schauspiel beginnt die Vorführung mit hell aufflackernden Neonleuchten und Lichteffekten von Carsten Rüger. Es ertönt dazu eingängiger Elektropop, in dem das Wort „Bourgeoisie“ markant wiederholt wird. Das Geschehen wird so bereits zu Anfang im wohlhabenden Bürgertum und der herrschenden Klasse der kapitalistischen Gesellschaft verortet. Es treten Figuren in einigermaßen schrillen Outfits auf, die wie auf einem Laufsteg auf und ab gehen. Sie posieren vor im Bühnenvordergrund und seitlich platzierten Aufnahmegeräten und Fotografen. Auf den beiden Monitoren werden nun Momentaufnahmen der Fotografien projiziert. Im hell ausgeleuchteten Blitzlichtgewitter bewegt sich bald zwischen den Models auch Nora (Sophia Burtscher) in einem hautfarbenen Ganzkörpersuit. Das Geschehen wird also in der Schönheitsindustrie verortet. Noras Ehemann Helmer (Peter Miklusz) ist in der Kölner Inszenierung ein gefragter Starfotograf der Modebranche. Nora ist nicht nur seine Ehefrau, sondern auch ein Model, das für Helmer gerne posiert. Nora ist es somit gewohnt, dass sie visuell in Besitz genommen wird und man auf sie draufschaut. Die Figuren werfen sich in Pose. Die „fotogene“ Selbstdarstellung vor dem Apparat geht dabei mit ganz viel Künstlichkeit einher. So karg, wie die Bühne ist, so ausdruckslos, makellos und leer erscheinen viele Gesichter der Models. Auch später verstecken auftretende Figuren eigene Probleme hinter einer perfekten und glatten Hülle, wie der sterbenskranke Alexander (Séan McDonagh).
Der Look ist entscheidend. Auch unsere Titelheldin verbringt viel Zeit mit ihrem Aussehen. Helmer redet Nora, wenn er sie fotografiert, mit stylischen Anglizismen wie „honey“ oder „hottie“ an. Er bittet seinen „Schmetterling“ um mehr „balance“, was sie „funny“ findet. Gerne zwängt sich Nora in den Objektstatus, wenn ihr Mann ausruft: „Bleibe so, nicht bewegen.“ Homestories werden auf Social Media wie Instagram geteilt und eifrig gemonitored. Doch was ist noch echt, wenn alles als eine Selbstinszenierung oder Selbstoptimierung erscheint? Bei den Helmers herrscht eine oberflächliche, aufgedrehte, aufgemotzte und kühle Künstlichkeit. Nora akzeptiert das leichte Leben mit vielen Bediensteten und Verehrern und das Zu-einem-reichen-Mann-Gehören gerne. Eitel bis in die Haarspitzen, sonnt sie sich im beruflichen Erfolg des Mannes. Sie glaubt sich als Gönnerin, wenn sie Freunden wie der Marketingfachfrau Christine (Katharina Schmalenberg) die Arbeit mit ihrem Mann ermöglicht. Sie genießt Helmers Dominanz und gefällt sich in ihrer Unterwürfigkeit. Borgmann überzeichnet die Figuren so sehr, dass die Kinder der Helmers wie dressierte Hunde, ihr Gesicht unter übergroßen Hüten versteckt, an der Leine der Babysitterin Zuzanna (Kristin Steffen) vor- und abgeführt werden. Eine fehlende Empathie den Kindern gegenüber, die Nora gerne hysterisch anschreit, ist natürlich vorprogrammiert.
Sophia Burtscher gestaltet Ibsens Titelheldin von Anfang an nicht als Sympathieträgerin. Sie überzeichnet ihre Figur grotesk, wenn sie beim Small Talk mit Bekannten deren Vornamen mehrfach marktschreierisch ausruft, am Boden liegend laut und verlottert um „Champagner“ bettelt, oder ihre größte Angst der Missgunst von Influencern oder Bloggern gilt. Inspiriert wurde Ibsen zu seinem Drama vom realen Schicksal der Laura Kieler. Ohne Wissen ihres Mannes nahm die norwegisch-dänische Schriftstellerin ein Darlehen auf, um ihren Mann durch eine Reise in den Norden von seiner Lungenkrankheit zu heilen. Wie der realen Kieler wird auch Ibsens Nora dieses Darlehen zum Verhängnis. Viel Handlungsspielraum bleibt Nora nicht, als der abgehalfterte Nils (Alexander Angeletta) sie auf ihre Schuld hin anspricht. Es wird auf der Bühne leidenschaftlich viel geschrien. Doch insgesamt erscheinen die Darsteller mit ihren Figuren deutlich unterfordert. So ist etwa Justus Maier dazu verdonnert, minutenlang nur in Unterhose auf einer herabhängenden Attrappe eines geschlachteten und gehäuteten Rindes zu liegen. Bei Peter Miklusz als Helmer lassen sich sogar herabbaumelnde Geschlechtsteile rezensieren. Burtscher entwickelt zum Ende hin die Selbstreflexion, den Gesinnungswandel und das Erstarken ihrer Nora kaum. Die Motivation ihrer Figur, herrschenden Konventionen und bürgerlichen Moralvorstellungen kühn den Rücken zu kehren, scheint zu irrational, diffus und blass auf. Robert Borgmanns platte Bearbeitung nach einer Übersetzung des Dramas von Hinrich Schmidt-Henkel wirkt zu grell und reißerisch. Das Schicksal der Figuren lässt einen kalt.
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Peter Miklusz als Helmer und Sophia Burtscher als Titelheldin in Nora am Schauspiel Köln | Foto © Krafft Angerer
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Ansgar Skoda - 25. Oktober 2020 ID 12557
NORA (Depot 1, 24.10.2020)
Regie / Bühne & Musik: Robert Borgmann
Kostüm: Bettina Werner
Video & Licht: Carsten Rüger
Dramaturgie: Beate Heine
Besetzung:
Nora … Sophia Burtscher
Helmer … Peter Miklusz
Kristine … Katharina Schmalenberg
Alexander … Seán McDonagh
Nils … Alexander Angeletta
Zuzanna … Kristin Steffen
Assistent … Justus Maier
Fotograf … Hermann Müller
Premiere am Schauspiel Köln: 24. Oktober 2020
Weitere Termine: 25.10. / 06., 22.11./ 04., 12., 13.12.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln
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