Anstrengung
und Abstand
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Simon Rußig in Der Zauberer von Oz am Theater der Keller | Foto © Jan Niklas Berg
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Bewertung:
Wer hätte das gedacht? Das Theater der Keller zeigt, kurz nachdem es nach Monaten der Pandemie-Pause seine Tore wieder öffnen darf, ein Musical. Doch zu früh auf Hymnen wie „Over the Rainbow“ gefreut, es gibt zu Der Zauberer von Oz den kryptischen Beititel There’s no place like home. Anstelle eines Theaterabends mit dem Kindermärchen The Wonderful Wizard of Oz (1900) von Lyman Frank Baum (1856-1919) erwartet den Zuschauer eine kritische Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Klassiker. Auch die erfolgreichen Kino-, Theater- und Musicaladaptionen, Subtexte und Diskurse sollen dabei demontiert werden.
Im Märchen trägt ein Sturm das Mädchen Dorothy und ihren Hund Toto von ihrem grau-tristen Elternhaus – einer Farm in Kansas – weg. Im bunten Land Oz erlebt Dorothy dann Abenteuer mit Feen, Hexen, einer hirnlosen Vogelscheuche, einem herzlosen Blechmann und einem mutlosen Löwen. Am Ende möchte sie dann doch wieder zurück nach Hause. Am Theater der Keller wird die Rahmenhandlung – wenn überhaupt - sehr frei interpretiert. Zentrale Frage ist, warum kehrt die Figur der Dorothy zurück in ihre Heimat, obwohl sie in Oz glücklich und am Geburtsort unglücklich war?
In der TanzFaktur, der Ausweichspielstätte des Theaters der Keller, prangen in blinkenden, großen Lettern die Worte „FUCK HOME“ über der Szenerie. Die Vorführung widmet sich zuvorderst einem problematischen Heimatbegriff des Märchens.
Im großen Abstand zueinander sitzen die vier Darsteller nebeneinander dem Publikum gegenüber. Sie tragen – der Figur der Dorothy aus dem legendären Film von 1939 ähnliche - weite Rüschenkittel und rote Lackschuhe (Kostüme: Chiara Witzel). Es wird eine nervige und dysfunktionale Vater-Mutter-Kind-Dynamik vorgeführt. Die Figuren beschimpfen sich akzentuiert teils durcheinanderredend mit Kraftausdrücken wie „Arschloch“. Sind sie in der Covid-19-Krise wegen einer möglichen Quarantäne gemeinsam zuhause geblieben? Der innerfamiliären Querelen müde, geht es bald darum, Der Zauberer von Oz zu spielen und um die Frage, wer eigentlich mitspielen möchte.
Von oberhalb der Bühne hängen durchsichtige Plastikplanen herunter. Hier werden surreale Landschaften aus der legendären Verfilmung von 1939 projiziert. Szenen mit der damaligen Hauptdarstellerin Judy Garland wiederholen sich im Endlos-Loop. Es erklingen Songs von Band, wie „What a Wonderful World“ von Louis Armstrong.
Die Darsteller elaborieren über mögliche Heimatgefühle. Novalis, Dostojewski, die Grünen bis hin zu Björn Höcke von der AfD werden schulkindhaft zum Heimat-Begriff bemüht. Ist Heimat nur eine Illusion, ein Konstrukt, eine Projektionsfläche? Was ist mit Traditionen, Brauchtum, der eigenen Herkunft? Wo wird der Heimat-Begriff vielleicht heute noch missbraucht?
Die Darsteller fallen um, werfen sich hin. Die amerikanische Vertreibung der Indianer wird problematisiert. Karoline Horsters Figur entschuldigt sich ausdrucksstark als potentielle Repräsentantin der US-amerikanischen Politik für Verbrechen an den Ureinwohnern. Sie hebt hervor, dass sie hier etwas wagt, was lange versäumt wurde. Einen Augenblick später entkräftet sie ihre Entschuldigung hin bis ins Nichtssagende. Denn sie entschuldigt sich nun auch bei ihren Bühnenpartnern, etwa dafür, dass sie manchmal nicht nett genug gewesen sei. Schließlich erklärt sie gleich darauf, dass sie auch Grenzen habe, etwa Grenzen des Körpers. Sie kokettiert bald „Ich bin auch musikalisch“, um sich schließlich an einem Hackbrett zu erproben.
Einen höchst witzigen Monolog hält gleich danach Tim-Fabian Hoffmann, der die Grenzen der Demokratie aufzeigt, indem er mögliche Andersdenkende im Publikum ausdrucksstark mit Nachdruck und sichtlich bewegt attackiert. Auch Simon Rußig hat einen effektvollen Solo-Auftritt, wenn er darlegt, wie sich der Heimatbegriff für jemanden wandelt, dessen Großeltern Grund und Boden durch Mittäterschaft im Nationalsozialismus erwarben.
Der Zauberer von Oz wird gerne mit der legendären Judy Garland, Hauptdarstellerin des Musicals von 1939, in Verbindung gebracht. Renée Zellweger erhielt für ihre Darstellung der Judy Garland in der Filmbiografie Judy (2020) im Februar einen Academy Award. In der Kölner Theaterinszenierung wird die Person Garlands thematisiert und grob entmystifiziert. Es wird ausgerufen, sie habe zuletzt „Over the Rainbow“ nur noch des Geldes wegen gesungen. „Blut ist im Schuh“ wird einstimmig gerufen. Denn Garland war drogenabhängig und starb im Alter von 47 Jahren an einer Überdosis.
Die jungen Darsteller zeigen, wie in Tom Müllers Inszenierung von R.W. Fassbinders Tropfen auf heiße Steine nackte Haut, sind laut und unflätig. Und weil Frank Casalis Figur meint, er habe als Kind schon glänzen wollen und damit bei seiner Mutter keine Reaktion hervorlocken können, hat sich die Regie zu guter Letzt etwas Besonderes einfallen lassen. Im hautengen goldfarbig schimmernden Bodysuit rutschen die Darsteller gegen Ende vielfach durch Seifenlauge.
Videoeffekte, Komik, Slapstick, Hüpfakrobatik, Assoziationen, direkte Ansprache an das Publikum und andere szenische Einfälle reihen sich ambitioniert aneinander. Es wird viel in Der Zauberer von Oz hineingepackt. Doch es fehlt an Kohärenz und Klarheit. Augenblicksartige schauspielerische Glanznummern verdienen nichtsdestotrotz Anerkennung. Die Poesie des Märchens kommt in der überbordenden Collage schlussendlich etwas kurz.
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Der Zauberer von Oz am Theater der Keller | Foto © Jan Niklas Berg
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Ansgar Skoda - 16. Juni 2020 ID 12300
DER ZAUBERER VON OZ - THERE'S NO PLACE LIKE HOME (TanzFaktur, 12.06.2020)
Regie, Bühne und Musik: Tom Müller
Kostüme: Chiara Witzel
Video und Bühne: Christoph Stec
Assistenz: Lea Rump
Mit: Frank Casali, Tim-Fabian Hoffmann, Karolina Horster und Simon Rußig
Premiere am Theater der Keller: 12. Juni 2020
Weitere Termine: 25., 27.06.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-der-keller.de
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