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Orlando am Schauspiel Köln | Foto © Birgit Hupfeld

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Spiegelungen soweit der Blick reicht – da liegen jeweils zwei marmorartige geöffnete große Handskulpturen, gotische Fenster, Betten, Waschgelegenheiten, Sekretäre und Monitore einander genau gegenüber. Auch die sieben auftretenden Akteure tragen meist die gleichen schwarzen Röcke und High Heels und weiße beziehungsweise später hellgrüne Blusen. Sie bewegen sich synchron, ahmen Worte und tänzerische Gesten der anderen nach, übersetzen das von anderen Darstellern gesprochene Deutsch synchron ins Englische, stöhnen zeitgleich „Hach“. Die Drehbühne im Zentrum lässt zentrale Elemente mehrfach rotieren. Dann ist da noch eine Abbildung von Albrecht Dürers im Bühnenzentrum erhöht platziertem Bild Adam und Eva (1507). Auch in diesem zweiteiligen Renaissance-Gemälde stehen die Figuren der ersten Menschen einander zugewandt gegenüber. Wolfgang Menardis ästhetisch überbordende Bühne bietet ein Ausstattungsfest an üppigem Dekor. Auch Theaterrauch und Verzerrungen von Stimmübertragungen bereichern das Erlebnis.

Lucia Bihler inszeniert Virginia Woolfs Orlando (1928) als visuell und akustisch aufgeladenes Ereignis mit zahlreichen Show-Elementen. Auch Woolf spiegelte in ihrem als Biographie getarnten Roman den Eindruck eines wichtigen Menschen in ihrem Leben. Sie widmete ihre fiktive Biographie der zehn Jahre jüngeren Geliebten Vita Sackeville-West. Die adlige Schriftstellerin Sackeville-West war so Vorlage und Inspiration des utopischen Romans. Woolfs Freundin war dafür bekannt, dass sie sich zu gesellschaftlichen Anlässen oft als Mann verkleidete. Die Akteure behaupten auf der Bühne, dass gemäß Woolf eine einzige Biographie sechs bis sieben porträtierter Personen bedürfe. Tatsächlich agieren alle Darsteller auch als Titelfigur, gemeinsam – sozusagen als Persönlichkeitsanteile – oder nacheinander.

Im Depot 1 wird der Reichtum einer bewegten Biographie vom elisabethanischen Zeitalter bis zur unmittelbaren Gegenwart tänzerisch und sinnlich dargeboten. Orlando ist wohl der ironischste, heiterste und verspielteste Roman Virginia Woolfs. Im England des 16. Jahrhunderts ist der 16-jährige Orlando (Mason Manning) ein Liebhaber von Königin Elisabeth I. (Yuri Englert). Am Schauspiel Köln trägt die Königin ein überdimensioniertes Faltenkostüm, in das sie regelrecht hineinfällt und versinkt, nachdem Orlando ihr nicht sogleich eingeforderte Liebesdienste erweist.

Lucia Bihler behält die personale Erzählsituation aus Woolfs Roman bei. Inhalte werden wechselnd vorgetragen, wobei Katharina Schmalenberg den mit Abstand größten Textanteil hat. Es werden verschiedene Romanteile wenigstens flüchtig gestreift, von der Kurzen Eiszeit an der zugefrorenen Themse im 17. Jahrhundert, über eine Episode als Gesandter im politisch unruhigen Konstantinopel, bis hin zur unmittelbaren Jetztzeit. Die Ensemblemitglieder spielen Orlandos Stimmungen und Gefühle ausdrucksstark in kurzen Tanzsequenzen nach. Mal wiegen sie sich haltlos auf der geöffneten Hand, dann formen sie gemeinsam gestenreich eine Figur.

Im Alter von 36 Jahren wandelt sich sein Geschlecht von einem Mann zu einer Frau, was Fragen nach der damaligen gesellschaftlichen Stellung der Frau aufwirft. Darstellerin Martina Chavez problematisiert als Orlando in einem witzigen englischsprachigen Monolog, dass sie nun fortan aufgrund ihres Geschlechts in Gesellschaften darauf reduziert sei, Tee anzubieten und zu fragen, „Sugar or cream“. Nach der Wandlung altert Orlando nicht mehr. Über einen Zeitraum von etwa 350 Jahren erlebt sie verschiedene Epochen Großbritanniens - Änderungen des Klimas, der gesellschaftlichen Umgangsformen und Umbrüche in anderen Ländern.

Überlaute Glockenschläge strukturieren das Bühnengeschehen. Die Inszenierung lässt sie*ihn oft nicht selbst sprechen, sondern gibt über Zeugen Auskunft, wenn sie*er etwa schwermütig über den Sinn der Welt grübelt. Eine sehr witzige Szene zeigt Jemima Rose Dean als Orlando beim schriftstellerischen Schöpfungsprozess. Sie schreibt völlig in sich vertieft an ihrem Werk „The Oaktree“, während Yuri Englert und Katharina Schmalenberg das Publikum minutenlang mit sinnentleerten Phrasen hinhalten. Zahlreiche Ausstattungshelfer bauen kopfschüttelnd die Requisiten ab. Tritt hier Orlando ihre Besitztümer ab, weil zur damaligen Zeit nur Männer erbberechtigt waren? Die beiden Weltkriege und die Geburt von Orlandos Sohn finden szenisch leider keine Darstellung oder Nacherzählung.

Woolfs kühner, manchmal surrealer Roman ging als bedeutendes Gesamtkunstwerk in die Literaturgeschichte ein. Die leider recht voraussetzungsreiche Bühnenfassung rüttelt an dem Ruhm der Vorlage, indem sie den Inhalt des Romans um neue und eigene Ideen bereichert. Die Akteure posieren teils in provokanten Lackkostümen oder gar splitterfasernackt auf Hackenschuhen in athletischen Heldenposen zu Planningtorocks Song „Orlando“. Die sieben Darsteller verkörpern mit tänzerischem Können und beeindruckendem Tempo unterschiedliche Romanfiguren. Ähnlich spielfreudig mag wohl einst Vita Sackeville-West gewesen sein. Nach der Inszenierung ist man knappe 90 Minuten älter und fühlte sich von Erzählsträngen aus scheinbar 400jähriger Historie phantastisch, poetisch und angenehm modern unterhalten.



Orlando am Schauspiel Köln | Foto © Birgit Hupfeld

Ansgar Skoda - 11. Oktober 2021
ID 13204
ORLANDO (Depot 1, 09.10.2021)
Regie: Lucia Bihler
Choreografie: Lucia Bihler & Ensemble
Bühne & Video: Wolfgang Menardi
Kostüm: Andy Besuch
Komposition & Sounddesign: Jacob Suske
Inszenatorische und choreografische Mitarbeit: Mats Süthoff
Licht: Jürgen Kapitein
Dramaturgie: Sarah Lorenz
Mit: Margarida Isabel De Abreu Neto, Martina Chavez, Jemima Rose Dean, Yuri Englert, Mason Manning, Katharina Schmalenberg und Long Zou
Premiere am Schauspiel Köln: 2. Oktober 2021
Weiterer Termin: 13.11.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln/


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