Ein einziges
Aufbäumen
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Pardon wird nicht gegeben am Schauspiel Köln | Foto © Krafft Angerer
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Bewertung:
Es ist ein hartes Los: Als Heranwachsender wird man zu einem Lebensweg gedrängt; im Alter zieht dieser eingeschlagene Weg verheerende Konsequenzen nach sich. Der Schweizer Rafael Sanchez inszeniert Pardon wird nicht gegeben am Schauspiel Köln nach dem gleichnamigen Roman von Alfred Döblin aus dem Jahre 1935. Erzählt wird in andeutungsreichen Bildern und mit darstellerisch bemerkenswerten Leistungen vom Aufstieg und Fall von Karl, dem ältesten Sohn einer Witwe:
Nach dem Tod des Vaters zieht eine verarmte und verschuldete Familie von der Provinz in die Großstadt. Der 16jährige Karl muss sehr früh eine Vaterersatzrolle übernehmen. Immer wieder beruhigt er die instabile und unzuverlässige Mutter und bemüht sich um das Wohlergehen seiner kleinen Schwester Marie und seines kleinen Bruders Erich. Er wird jedoch bald von seiner Mutter dazu gedrängt, eine Arbeit zu finden, um Geld zum Unterhalt beisteuern zu können. Ohne zu wissen, welche Leistungen er anbieten kann, sucht er den Kontakt zu vorbeigehenden Passanten auf der Straße: „Haben Sie eine Arbeit für mich?“ Immer lauter und verzweifelter wird der Ruf Karls. Schnell blickt Simon Kirsch in der Hauptrolle des Karl von der Bühne ins Publikum und visiert einzelne Theaterbesucher in den vorderen Reihen an. Bald schließen sich seine Mutter, seine Geschwister und die anderen Figuren auf der Bühne seinen Rufen an. Es erklingt ein ganzer Chor der verzweifelt Arbeitssuchenden, die nebeneinander aufgestellt in die Zuschauerreihen blicken. Doch eine mögliche Nachfrage und (Arbeits-)Perspektive lässt auf sich warten. Erst als ein einflussreicher Onkel Karl eine Chance gibt, ändern sich die unguten Vorzeichen für die Familie.
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Das Bühnenbild von Thomas Dreißigacker bietet allerlei Requisiten, wie Tische, Stühle und abgetrennte Räume mit Glasfronten. Darüber hinaus laden mitunter Video-Collagen auf mehreren Monitoren von Stefan Bischoff und aufwändige Live-Kamera-Bilder von Nazgol Emami und Nora Daniels das Vorgeführte mit Bedeutung auf. Simon Kirsch agiert in der Hauptrolle des Karl enorm vital. Er beeindruckt mit lauter und beweglicher Bühnenpräsenz. Bereits zu Anfang ringt er beherzt mit der verzweifelnden Mutter um eine mögliche Stabilität seiner Herkunftsfamilie. Doch wie stark kann ein Heranwachsender sein, wenn sich die Mutter am liebsten ihren mütterlichen Pflichten ganz entziehen möchte? Wieviel kann er auffangen, wenn er sieht, dass auch die Geschwister leiden? Karl beginnt, sich durch neue Kontakte auf der Straße von dem Leid zuhause abzulenken. Er trifft auf Paul, der ihn auf andere Gedanken bringt. Karl möchte sich der Bewegung Pauls, eines Sozialrevolutionärs, anschließen. Doch seine Mutter macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie sperrt ihren Sohn in der gemeinsamen Wohnung ein. Es ist ein großer Theatermoment, wenn Lola Klamroth als Mutter mit verkniffenem Mund im Bühnenvordergrund ausharrt und ihm den Rücken zukehrt. Sie behält gegenüber ihren Sohn hart die Oberhand. Kirsch flippt derweil als Karl zeternd und brüllend aus, während sein kleiner Bruder Erich (Justus Maier) ihn festhält. Karls Mutter wird noch oft versuchen, den Weg ihres Ältesten zu beeinflussen und zu bestimmen. Dabei wird sie stets die eigenen Bedürfnisse über die ihres Sohnes stellen.
Ob bei halbnackten Handstand-Pushups oder beim Catchen mit dem Bruder - Kirsch steht als athletischer Karl immer unter Strom. Ohne Ventil und Unterlass drängt es ihn nach Betätigung. Er gönnt sich keine Ruhephase, denn es ist nie genug, was er für seine Mutter, seine Geschwister und später auch noch die eigene Frau und die eigenen Kinder tun kann. Neben Kirsch wirken viele der anderen Figuren oft blass, wie insbesondere Nikolaus Benda als Paul. Benda und Klamroth wird es auch ein bisschen erschwert, ihre Rollen weiter zu entwickeln, da sie im Stückverlauf jeweils noch eine weitere Figur spielen, die dann anders perückt ist und auch anders auftritt. Leider werden viele Schicksalsschläge nur angedeutet oder monologisch wiedergegeben. Ganze Handlungsstränge werden manchmal nicht zu Ende gespielt. Starke Gesten, die sich im Stück wiederholen, bleiben von ihrer Bedeutung her manchmal unklar. Das eindrucksvolle Bühnenbild erscheint etwas zu überkomplex. Auch dem Schlussmonolog in Versform gelingt es nicht, die Vorführung abzurunden. Döblins schrieb Pardon wird nicht gegeben 1934 im französischen Exil als Großstadt-, Entwicklungs- und Gesellschaftsroman. Er erzählt neben der Familiengeschichte über drei Jahrzehnte auch von demokratischer Erneuerung, Klassenkampf und der Weltwirtschaftskrise. Das Wagnis, einen fast 400seitigen, weitestgehend autobiographischen Roman mitreißend auf die Bühne zu bringen, gelingt während der über dreistündigen Vorführung nur teilweise. Immerhin werden überfordernde Männlichkeitsbilder, ungute Dynamiken innerhalb einer Familie und auch familiärer Zusammenhalt als ein Grundpfeiler der Sozialisation vielfach und lebendig hinterfragt.
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Pardon wird nicht gegeben am Schauspiel Köln | Foto © Krafft Angerer
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Ansgar Skoda - 11. Juni 2019 ID 11493
PARDON WIRD NICHT GEGEBEN (Depot 1, 07.06.2019)
Regie: Rafael Sanchez
Bühne: Thomas Dreißigacker
Kostüme: Maria Roers
Video: Stefan Bischoff
Musik: Knut Jensen
Licht: Jürgen Kapitein
Dramaturgie: Lea Goebel
Bühnenfassung: Eberhard Petschinka
Besetzung:
Paul, José … Nikolaus Benda
Karl … Simon Kirsch
Mutter, Ilse … Lola Klamroth
Erich … Justus Maier
Erzähler, Onkel, Anwalt … Martin Reinke
Julie … Ines Marie Westernströer
Marie … Ida Marie Fayl / Fritza Zöllich
DEA am Schauspiel Köln: 24. Mai 2019
Weitere Termine: 12., 14., 18., 21., 22., 27., 30.06. / 11.07.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln
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