Im Rausch der
Verwahrlosung
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Das Leben des Vernon Subutex 1-3 am Schauspiel Köln | Foto © Thomas Aurin
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Bewertung:
Buchliebhaber besuchen meist mit Skepsis eine theatrale Umsetzung eines gelungenen Romans. Moritz Sostmann schafft es jedoch am Schauspiel Köln, Virginie Despentes Das Leben des Vernon Subutex 1-3 erstaunlich packend, humorvoll und mit starken emotionalen Momenten umzusetzen. Natürlich können nicht alle Handlungsstränge und Personen einer 1200seitigen Romantrilogie in einer Theateradaptation berücksichtigt werden. Zwangsläufig kommt es in der Theaterfassung von Eberhard Petschinka zu Vereinfachungen und Kürzungen.
Sostmann wagt einen Kunstgriff: er zeigt Despentes sozialkritisches Epochen- und Gesellschaftspanorama als Puppentheater für Erwachsene. Figuren splitten sich auf, wenn sie mal von Menschen und mal von Puppen gespielt werden. Und Despentes‘ Masse an Figuren entfaltet auf der Bühne ein ganz eigenes Eigenleben, wenn etwa Puppen Menschen beim Agieren beobachten. Nicht alle Figuren werden durch Puppen gespielt, einige wurden auch ganz gestrichen (insbesondere die Entwicklungen im zweiten und dritten Band wurden stark gekürzt). Doch im Großen und Ganzen bleibt das Handlungsgerüst der Vorlage erhalten.
Die 50jährige französische Schriftstellerin beschreibt eine Verrohung, Vereinsamung und ein Auseinanderfallen der kapitalistischen Gesellschaft in Krisenzeiten. Ihre Charaktere sind vielschichtig und kommen aus unterschiedlichen Milieus. Bei vielen von ihnen hat sich Wut auf das Establishment angesichts sozioökonomischer Ungerechtigkeit und allerlei Finanz- und Schuldenkrisen angestaut. Doch gerade wenn das Leben nicht mehr viel verspricht, kann es noch einmal ordentlich zur Sache gehen.
Die Titelfigur Vernon Subutex, ein 50 Jahre alter Antiheld, benannte sich nach einem Substitutionsmedikament für Heroin-Süchtige. Als Vernons berühmter Gönner, der Schlagerstar Alexandre Bleach, plötzlich verstirbt und ihm nicht mehr aushelfen konnte, wird Vernon aus seiner Wohnung gekündigt. Der frühere Besitzer eines Plattenladens wird so obdachlos, auch Musiktauschbörsen wie Napster sei Dank.
Christian Becks Bühne ist kastenförmig gerahmt, breit und schmal. In einem dahinterliegenden Schacht können Personen verschwinden und wieder auftauchen. Die Darsteller bewegen sich wiederholt lasziv zu rhythmusgetriebener Musik. In einem Schattentheater zeigen sie dabei scharfe Umrisse. Die dunklen Umrisse beschreiben während einer DJ-Séance von Subutex gar einen nackten Körper einschließlich Gemächt vor vorbeiziehender Eifelturm-Kulisse. Kurz vor der Pause öffnet sich die Bühne und gibt einen dahinterliegen, großzügigen Raum frei.
Die Puppen von Hagen Tilp wirken recht lebensecht, obwohl sie deutlich kleiner sind als ihre lebendigen Widerparte. Vernon Subutex hat als Puppe langes, blondiertes und strähniges Haar und ein faltiges Gesicht. Aram Tafreshian erzählt als sein menschliches Alter Ego lebendig und gestenreich Vernons Geschichte, während die Vernon-Puppe von zwei anderen Darstellerinnen bewegt wird. Vernon trifft anfangs auf die Ex-Bandkollegin Emilie (Katharina Schmalenberg), die früher Punkerin war und heute als Beamtin arbeitet. Sie hat einige Therapien hinter sich. Trotzdem hadert sie weiterhin mit ihrem Sexualleben, insbesondere wenn sie an kurzatmige Männer mit dicken Wansten zurückdenkt. Subutex bittet bald auch andere frühere Wegbegleiter vorübergehend um Unterschlupf, um dort auf den Sofas zu nächtigen. Alsbald strandet der lädierte Frauenheld jedoch in Gesellschaft von Obdachlosen im Pariser Park Buttes-Chaumont. Ein kleiner Höhepunkt des Abends ist es, wenn Ines Marie Westernströer als draufloswetternde Obdachlose Olga drei junge Rechtsextreme in die Flucht schlägt. Gleich darauf singt sie mit knarzig-heiserer Stimme ebenso schief wie enthusiastisch „Skyfall“ von Adele. Auch den arroganten, reizbaren und maßlosen Filmproduzenten Dopalet zeichnet die Inszenierung treffend. Dopalet setzt eine Privatdetektivin auf Subutex an, da er bei ihm wertvolle Videoaufzeichnungen von Alex Bleach vermutet.
Eine bunt zusammengewürfelte Gemeinschaft, die Vernon sucht, findet ihn kurz vor der völligen Verwahrlosung. Diese Gemeinschaft, die sich alsbald um Vernon schart, bildet einen Gegenentwurf zur verrohenden Gesellschaft im Spätkapitalismus. Vernon veranstaltet Tanzhappenings mit seinem neugewonnenen illustren Freundeskreis. Doch bald dringt die Gewalt auch bis hin zu ihm und seinen Vertrauten durch. Die Vernon-Puppe wird zu guter Letzt gekreuzigt, sinnigerweise auf einer Vinylplatte. In einer genau durchchoreographierten Endzeitvision erfahren wir, dass noch lange nach Vernons Tod sein Nachruhm überleben wird. Insgesamt höchst vergnügliches und anregendes sozialkritisches Theater mit vielen gelungenen Szenen und schönen Bildern.
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Das Leben des Vernon Subutex 1-3 am Schauspiel Köln | Foto © Thomas Aurin
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Ansgar Skoda - 6. November 2019 ID 11791
DAS LEBEN DES VERNON SUBUTEX 1-3 (Depot 1, 05.11.2019)
Regie: Moritz Sostmann
Bühnenfassung: Eberhard Petschinka
Bühne: Christian Beck
Kostüme: Elke von Sivers
Künstlerische Mitarbeit Kostüm: Lise Kruse
Puppen: Hagen Tilp
Licht: Jan Steinfatt
Dramaturgie: Anne Rietschel
Mit: Johannes Benecke, Sebastian Fortak, Nicola Gründel, Benjamin Höppner, Anna Menzel, Magda Lena Schlott, Katharina Schmalenberg, Aram Tafreshian und Ines Marie Westernströer
Premiere am Schauspiel Köln: 25. Oktober 2019
Weitere Termine: 05., 06., 09., 10.,26.11. / 08.12.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln/
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