Verharren im
Scheitern
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Sophie Basse als Helene und Holger Kraft als Alfred Loth in Vor Sonnenaufgang am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Getragene Klänge von Klavier und Geigen wiederholen sich melancholisch aus den Lautsprecherboxen. Der Bühnenkubus dreht sich. Bilder von Fertigungshallen in der Autoindustrie und historische Filmausschnitte von Demonstrationen aus den 1980er Jahren werden auf die Drehbühne projiziert. Ein Außenstehender besucht einen Freund aus Studientagen im Kreise von dessen Angehörigen, der Familie Krause. Allmählich eröffnet sich die groteske Dimension der Konflikte einer tief zerrütteten Familie.
Das 1889 entstandene naturalistische Drama Vor Sonnenaufgang war ein Theaterskandal bei der Uraufführung, auch wegen dem Geschrei einer Gebärenden auf der Bühne. Das Stück bedeutete den Durchbruch für den damals 26jährigen Dramatiker Gerhart Hauptmann, der 1912 den Literaturnobelpreis erhielt. Ewald Palmetshofer übersetzte 2017 das grobe Gerüst der zentralen Handlung, zentrale Motive und den Spannungsbogen Hauptmanns in die Gegenwart. Sascha Hawemann inszeniert nun das soziale Drama in der Adaptation des Österreichers Palmetshofer am Theater Bonn.
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Das Familienoberhaupt, Egon Krause (Christoph Gummert) ist Chef eines Unternehmens in der Autozuliefererbranche. Der Reichtum der Automobilindustrie entstammt noch dem Dritten Reich. Bei seinen Kneipengängen trauert er seiner ersten Frau, Mutter seiner beiden Töchter, hinterher. Seine Familie wird derweil engagiert von seiner zweiten Frau Annemarie (Ursula Grossenbacher) zusammengehalten. Tochter Helene (Sophie Basse) hatte als freie Künstlerin in der Großstadt keinen Erfolg und kehrte verbittert heim in ihr Elternhaus. Ihre Schwester Martha (Lena Geyer) ist schwanger und trägt Babydoll-Kostüme. Trotzig wehrt sie sich gegen traditionelle Rollenbilder und gesellschaftliche Normen. Sie möchte nicht dem Bild der glücksseligen Mutter entsprechen. Ihr Mann Thomas Hoffmann (Daniel Stock) ist zugleich potentieller Geschäftsnachfolger ihres Vaters. Hoffmann ist aus Karrieregründen rechtspopulistischer Politiker geworden. Er glaubt, dass der Rechtsruck einer Karriere in der Politik zugutekommen wird, weil er die herkömmliche Demokratie als gescheitert sieht. Zynisch tritt er für eine unmenschliche Politik ein, ist jedoch gleichzeitig um seine überdrehte Frau besorgt. Als Hoffmanns alter Freund Alfred Loth (Holger Kraft), ein linker Journalist, auftaucht, ringen die beiden in wortreichen Auseinandersetzungen miteinander.
Zu Beginn zeigt die Inszenierung, wie der Vater, die Mutter und die beiden Töchter nach Einkäufen für das neue Kinderzimmer nach Hause kommen. Mit einem großen und sperrigen Paket passt der Vater nicht durch die Eingangstür. Alsbald wird viel, laut und derbe geflucht. Schon wegen derlei Lappalien scheint die kleine Weltordnung des Privaten erschüttert. Der Vater ist übergriffig, die Töchter hadern mit ihrem Schicksal, auch die Stiefmutter ist zutiefst frustriert. Das Drama handelt nicht mehr, wie bei Hauptmann, vom zerstörerischen Potenzial des Alkoholismus in der Familie, sondern vielmehr vom aneinander vorbeileben der Figuren. Die zivilisierte Fassade der Mittelschichtsfamilie bröckelt deutlich.
Hoffmann und Loth streiten sich über das Auseinanderdriften zwischen Rechts und Links und die allgemeine Verfasstheit in der modernen Gesellschaft. Verdrängte Konflikte und niedergehaltene Spannungen werden durch den Besuch Loths, der bis heute linksliberalen Ideen nachhängt, wieder greifbar. Der Streit zwischen den beiden mündet in Ratlosigkeit. Die Figuren verlieren alsbald ihre Selbstbeherrschung. Das Vorgeführte zeigt ein düsteres Bild der Verhältnisse. Die Figuren kämpfen mit ihren Dämonen und werden als psychische Wracks von Verzweiflung und Depression beherrscht. Trotzdem gibt es auch immer kleine Gesten der Versöhnlichkeit und behutsam-leise Momente der Annäherungen zwischen den Figuren.
Helene Krause wählte bei Hauptmann aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen und fehlenden Perspektiven als vielleicht ambivalenteste Figur noch den Freitod. Hier ist sie in einer Reminiszenz an Marina Abramovic Performancekünstlerin, allerdings ohne Erfolg. Sie macht Aktionskunst und schabt beispielsweise Knochen ab. Verbittert arbeitet sie mit und an ihrem Körper und setzt sich dabei auch mit ihrem Schicksal auseinander. Sie erkundet ihren eigenen Schmerz lustvoll und begegnet auch den Gefühlsextremen ihrer Schwester mit leisem Verständnis.
Vor Sonnenaufgang eröffnet trotz einiger Längen eindrücklich, wie verführbar verzweifelte Menschen für populistische Welterklärungen sein können, obwohl sie es eigentlich besser wissen müssten. Hier wagt das Stück eine höchst finstere Prognose. Leider wird jedoch vieles zu drastisch überzeichnet. So wirkt etwa Timo Kählert als schrulliger Hausarzt Dr. Schimmelpfennig, der zynisch das Neugeborene und wohl gleich die Familie zu Grabe trägt, im demonstrativen Trippelschritt und Taumeln überm Abgrund höchst lächerlich. Mehr Feingefühl und Empathie für die Figuren hätte Hawemanns Inszenierung gutgetan.
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Daniel Stock als Thomas Hoffmann und Holger Kraft als Alfred Loth in Vor Sonnenaufgang am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Ansgar Skoda - 19. Oktober 2019 ID 11755
VOR SONNENAUFGANG (Schauspielhaus, 18.10.2019)
Inszenierung: Sascha Hawemann
Bühne: Wolf Gutjahr
Kostüme: Ines Burisch
Licht: Sirko Lamprecht
Dramaturgie: Carmen Wolfram
Besetzung:
Egon Krause ... Christoph Gummert
Annemarie Krause (Egon Krauses zweite Frau) ... Ursula Grossenbacher
Helene (Tochter aus Krauses erster Ehe) ... Sophie Basse
Martha Krause (Tochter aus Krauses erster Ehe) ... Lena Geyer
Thomas Hoffmann (Marthas Ehemann) ... Daniel Stock
Alfred Loth ... Holger Kraft
Dr. Peter Schimmelpfennig ... Timo Kählert
Premiere am Theater Bonn: 2. Oktober 2019.
Weitere Termine: 26., 31.10. / 03., 09., 20., 30.11.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de/
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