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nachDRUCK # 6

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Uraufführung

Roboter überwinden

den Bio-Menschen


WONDERLAND AVE.
von Sibylle Berg


Wonderland Ave. am Schauspiel Köln | Foto © Birgit Hupfeld

Bewertung:    



Vor Spielbeginn ertönt im ausverkauften Depot 2 eine einführende Computerstimme aus dem Off: die Zuschauer dürften fotografieren, bloß keine nackten Körper. Dann werde man noch vor Ort entsprechend bestraft. Spätestens jetzt fällt die Vielzahl von Darstellungen nackter Körper auf. So stehen bzw. liegen im Bühnenzentrum selbst zwei überlebensgroße Nacktskulpturen. Das im Bühnenzentrum platzierte Bett ist eine übergroße Nacktabbildung des Mannes, der auf den weich-fülligen Bauch ebendieses Bettes zu Anfang schläft (Bruno Cathomas). Im Hintergrund sehen wir eine übergroße, stehende Nacktskulptur einer Frau, der jemand über den Kopf eine große Tüte gezogen hat. Wahrscheinlich handelt sich hier um ein Abbild der Frau, die zu Spielbeginn in der Fußmulde des im Zentrum stehenden Körperbettes nächtigt (Kate Strong). Eine mögliche Eitelkeit und ein Narzissmus der Hauptfiguren werden gleich zu Anfang entlarvt. Auf bildlicher Ebene legt die Vorführung nahe, dass auch das Menschenpaar nur noch leblose Körper sein könnten. Die Computerstimme aus dem Off wird das Geschehen noch öfters kommentieren.

Das Paar befindet sich in Wonderland Ave., einer vollautomatisierten und aseptischen Einrichtung und einem Paradies der Nutzlosigkeit, in dem es sich um nichts mehr selbst zu kümmern braucht. Hier drängt jedoch immer wieder ein Chor aus Robotern auf die Spielfläche, der die harmonische Ruhe sichtlich stört. Sophia Burtscher, Jonas Grundner-Culemann, Elias Reichert, Sylvana Seddig und Nikolay Sidorenko agieren hier höchst eindrücklich mit emotionslos-unbeteiligten und künstlich erzeugt klingenden Stimmen. Ihre perfekt getakteten wie ferngesteuert ablaufenden Bewegungsmuster und ihre unförmigen Kostüme erinnern an Oskar Schlemmers Das Triadische Ballett.

Die Roboter gemahnen das Paar stets zur Selbstoptimierung, denn sie befänden sich augenblicklich in einem Wettkampf mit anderen Menschenpaaren um einen perfekten Zustand. Eine Perfektionierung des Körpers steht dabei klar im Fokus. An den Wänden hängen Poster von perfekt genormten Frauenkörpern, bei denen man nicht weiß, ob es sich um echte Menschen oder Schaufensterpuppen handelt. Immer wieder stellt sich jedoch die Frage, wozu es noch einer Selbstoptimierung bedarf. So fragt eine der Figuren, wozu man noch einen perfektionierten Körper braucht, wo doch gar keine Option der Partnersuche mehr besteht. Dating-Apps wie Grindr haben ja längst ausgedient, ebenso wie es schon lange kein Meer und keine Inseln mehr gibt. Ein ebenfalls an der Wand hängendes Poster von einer verhüllten Frau in einer Burka mutet jedoch als Perspektive der Persönlichkeitsentwicklung ebenso steril an. Der mehrfach preisgekrönte 31jährige Theaterregisseur Ersan Mondtag schafft in seiner Inszenierung von Sibylle Bergs Wonderland Ave. am Schauspiel Köln Bilder von großer Assoziationskraft.

Abschätzig bezeichnen die Roboter das namenlos bleibende Paar als Bio-Menschen. Die Maschinenmenschen durchleuchten die intimste Privatsphäre ihrer Schutzbefohlenen. So erklärt eine Roboterfrau dem männlichen Bio-Menschen, dass seine Mutter immerhin der einzige Mensch sei, der sich noch für ihn interessiere. Sie betont dies mit sachlicher Stimme. Im emotionslosen Gestus fährt sie sogleich fort und bemängelt vergangene Faulheit und Einsamkeit, die sein Dasein ausmachte, als er noch weitestgehend selbstbestimmt im Leben stand. Da habe er regelmäßig noch Pornofilme mit Männern in Autos konsumiert. Der Mann nickt betreten und peinlich berührt, während seine Frau darüber beinahe hysterisch laut verächtlich lacht. Die automatische Überwachung drängt sämtliche Geheimnisse ans Tageslicht.

Praktische Pillen dienen als Essensersatz. Die Menschen vermögen kaum Einfluss auf ihre Tagesstruktur zu nehmen. Operativ wurden ihnen bereits automatische Devices eingepflanzt, etwa um sie jederzeit lokalisieren zu können. Die Roboter entscheiden, ob Musik gespielt oder den Menschen durch Elektroschocks Vernunft und Gehorsam vermittelt werden sollen. Musikeinspieler, die Wagners Isoldes Liebestod dramatisch verfremden, werden von den Robotern ehrfurchtsvoll als elektronische Musik gehuldigt. Das Perfektionistische wird geliebt. Bei Turnübungen, die die Roboter den Menschen vormachen, werden die eleganten Verrenkungen einer Automatendame gepriesen, während es der Menschenfrau zunehmend schwerer fällt, die trippelnden, mechanischen Schritte nachzuvollziehen und sie dafür von den versammelten Robotern mit Schmährufen bestraft wird.

Die Bio-Menschen können noch so viel schreien und geifern, ohne dass ihnen Gehör geschenkt wird. Immer im gleichen Modus reagieren die Roboter mit Automatismen. Das Paar kann die automatische Stimmmodulation der Anteilnahme noch so sehr nachäffen, ohne dass die Roboter darauf reagieren. Die männliche Figur kreist trotzdem immer wieder um Erinnerungen aus seiner Vergangenheit, als es noch keine selbstfahrenden Autos und vollautomatischen Services gab. Seine wehmütigen, einigermaßen sinnentleerten Monologe werden von den Robotern schließlich spontan zu einem Schlagersingspiel umfunktioniert, wenn sie sich allesamt eng um ihn versammeln und seine Worte mit neuem Melodiefluss wiederholen.

*

Wonderland Ave. hat einige Längen. Es wirkt ein bisschen übertrieben-aufgesetzt und unpassend-unlogisch, wenn die Roboter gegen Ende ausgelassen tanzen. Eine Figurenentwicklung und daraus hervorgehende Spannung kommt immer wieder zum Erliegen, da sich die Menschen im Kräfteverhältnis zu den Robotern stets unreflektiert ihrer Unterlegenheit sicher scheinen. Hier ist Autorin Sibylle Berg wieder ganz in ihrem zynischen Element. Insgesamt hinterfragt das temporeiche und witzige Drama jedoch mutig technische Zukunftsentwicklungen - etwa wie das allumfassende Internet mit seinen Algorithmen unser heutiges Leben bereits beeinflusst, in welchen Bereichen humanoide Roboter unsere Intelligenz bereits übersteigen und ob künstliche Intelligenz nicht auch ein Bewusstsein und Gefühle haben könnte. Immerhin schreibt ja bereits der Shintoismus, eine vor allem in Japan verbreitete ethische Religion, jedem Ding, ob belebt oder unbelebt, eine eigene Seele zu.



Wonderland Ave. am Schauspiel Köln | Foto © Birgit Hupfeld

Ansgar Skoda - 16. Juni 2018
ID 10758
WONDERLAND AVE. (Depot 2, 12.06.2018)
Regie / Bühne: Ersan Mondtag
Kostüme: Josa Marx
Musik: Beni Brachtel
Licht: Michael Frank
Dramaturgie: Sibylle Dudek
Mit: Bruno Cathomas, Kate Strong, Sophia Burtscher, Jonas Grundner-Culemann, Elias Reichert, Sylvana Seddig und Nicolay Sidorenko
Uraufführung am Schauspiel Köln: 8. Juni 2018
Weitere Termine: 22., 24., 26.06.2018


Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel.koeln


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